In der Türkei könnte bald der Chef der Oppositionspartei CHP abgesetzt werden - die Justiz wirft ihm Bestechung vor. Politikwissenschaftler warnen vor einem Ende des Mehrparteiensystems. Das Verfahren wurde nun auf Oktober vertagt.
Die türkische Opposition kämpft angesichts einer Verhaftungswelle und zahlreicher Prozesse um ihr politisches Überleben. Besonders im Fokus steht ein Verfahren in Ankara. Dabei könnte Özgür Özel, der Chef der größten Oppositionspartei, der CHP, abgesetzt werden.
Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu geht es um die Annullierung der Entscheidungen des CHP-Parteitags 2023. Den Delegierten wird vorgeworfen, Bestechungen angenommen zu haben, um für Özel zu stimmen.
Die CHP-Parteiführung weist die Vorwürfe zurück. Sie argumentiert zudem, dass eigentlich die Wahlbehörde und nicht ein Gericht darüber entscheiden müsste, ob Abstimmungen bei Parteitagen rechtmäßig waren.
Sollte das Gericht den Parteitag für ungültig erklären und Özel abgesetzt werden, würde das Beobachtern zufolge das Ende einer unabhängigen Opposition in der Türkei einleiten. Das Gericht vertagte das Verfahren, das ursprünglich heute stattfinden sollte. Es seien noch weitere Unterlagen eingefordert worden, berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu. Der Prozess werde am 24. Oktober fortgesetzt.

CHP-Anhänger demonstrieren in Ankara.

Markus Rosch, ARD Istanbul, zu dem bevorstehenden Prozess um die Annullierung des CHP-Parteitags
tagesschau24, 15.09.2025 09:00 UhrZehntausende Menschen demonstrieren für CHP
Aus Protest gegen das Verfahren gingen gestern in der Hauptstadt Ankara Zehntausende Menschen auf die Straße, um für die CHP zu demonstrieren. Die Massenproteste dauern schon länger an, sie richten auch gegen das Vorgehen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
Parteichef Özel sagte bei der Kundgebung in Ankara, die Menschen seien zusammengekommen, um sich "gegen den Putsch" zu stellen, der gegen seine Partei geführt werde. "Diese Regierung will keine Demokratie", sagte Özel über Erdoğans Regierung. "Sie wissen, dass sie die Wahlen nicht gewinnen können, wenn es Demokratie gibt."
Die säkular ausgerichtete, linksnationale CHP sieht sich seit Monaten als Opfer einer politisch motivierten Kampagne der islamisch-konservativen Regierung. Diese weist eine Einflussnahme auf die Justiz, die jetzt das Verfahren gegen Özel führt, aber zurück.
Mit Özel kam der Erfolg - und dann der Ärger
Der Konflikt begann vor zwei Jahren, sich zu verschärfen. Damals wurde Erdoğan wiedergewählt - er gewann gegen den als farblos geltenden CHP-Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu. Dieser wurde daraufhin von Özel an der Spitze abgelöst, der die Partei neu ausrichtete. Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr zahlte sich das aus - die CHP gewann die meisten Bürgermeisterämter im Land.
Seitdem wurden zahlreiche oppositionelle Bürgermeister im Zuge von Terror- und Korruptionsermittlungen verhaftet, unter ihnen auch der Istanbuler Bürgermeister und Erdoğan-Rivale Ekrem İmamoğlu. Er sitzt seit einem halben Jahr ohne Anklage im Gefängnis. İmamoğlu gilt eigentlich als aussichtsreicher Herausforderer von Erdoğan bei zukünftigen Wahlen.
Autokratie wie in Russland?
Die Türkei-Expertin Gönül Tol sagte im politischen Podcast Turkey Recap, die Verhaftung İmamoğlus sei ein "Wendepunkt" gewesen. Erdoğan wolle die Türkei in eine Autokratie nach russischem Vorbild umbauen, in der Wahlen keine Rolle mehr spielten.
Inzwischen geht es beim Vorgehen der Regierung und der Gerichte - der Präsident hat maßgeblich Einfluss auf die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten - gegen die CHP nicht mehr nur um einzelne Bürgermeister, sondern um die Struktur der Partei. Erst vor zwei Wochen hatte ein Gericht den Vorstand der CHP in Istanbul abgesetzt und einen ehemaligen CHP-Abgeordneten als Verwalter ernannt. Ein anderes Gericht hatte die Entscheidung zwar wieder aufgehoben, der Verwalter blieb aber im Amt.
Erdoğans bevorzugter Gegner könnte zurückkehren
Sollte Parteichef Özel wirklich abgesetzt werden, könnte der ehemalige, unbeliebte Parteichef Kılıçdaroğlu - der vor zwei Jahren die Präsidentenwahl gegen Erdoğan verlor - wiedereingesetzt werden. Er gilt als schwacher Politiker und damit als bevorzugter Gegner des heutigen Präsidentens. Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Berk Esen ist zudem die Anzahl der Unterstützer Kılıçdaroğlus innerhalb der CHP minimal.
Sollte die jetzige CHP-Führung nun per Gerichtsbeschluss abgesetzt werden, könne man nicht mehr von einem funktionierenden Mehrparteiensystem sprechen, sagt Esen. "In diesem Fall würden wir zu einem viel hegemonialeren, autoritäreren Regime übergehen, in dem Wahlen keine große Rolle mehr spielen."
Esen sieht zudem Ähnlichkeiten mit Russland. Es gebe aber auch Unterschiede, etwa sei die Wirtschaft wettbewerbsfähiger und die türkische Gesellschaft offener und dynamischer. Nicht zuletzt sei die größte Oppositionspartei stark und habe populäre Führungsfiguren - neben dem inhaftierten İmamoğlu sei auch der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, zu erwähnen. Erdoğan dränge zwar darauf, das Land in eine autoritäre Richtung zu führen, sagt Esen. "Aber wir sind noch weit davon entfernt."
Erdoğan sieht Schuld bei CHP selbst
Der Präsident selbst stellt die Geschehnisse rund um die CHP als innerparteilichen Konflikt dar. Diese versinke im Strudel von "Streit, Chaos und Krise", sagte er am Samstag.
Erdoğan ist in der Türkei seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Die nächsten regulären Wahlen stehen 2028 an. Laut Verfassung darf der AKP-Politiker nur im Fall von Neuwahlen noch einmal als Kandidat antreten. Er strebt jedoch eine Verfassungsänderung an.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke