Die führende Initiative für Ernährungssicherheit hat für Teile Nord-Gazas eine Hungersnot ausgerufen. Auch in anderen Regionen sei die Lage desaströs, teilte die IPC mit - und warnt vor deutlich mehr Hungertoten. Israels Regierung widerspricht.

In einem nördlichen Bereich des Gazastreifens ist eine Hungersnot erklärt worden. Die dafür notwendigen Kriterien seien erfüllt, teilte die zuständige IPC-Initiative (Integrated Food Security Phase Classification) mit. Es geht um den Regierungsbezirk Gaza, in dem auch Gaza-Stadt liegt.

Das Leben von 132.000 Kindern unter fünf Jahren sei wegen Unterernährung bedroht, teilte die Initiative mit. 41.000 davon würden als besonders bedrohliche Fälle betrachtet, doppelt so viele wie bei der vorherigen Einschätzung im Mai.

Die Hungersnot sei menschengemacht, schreibt das IPC in einem Post auf der Plattform X. Sie könne gestoppt werden, wenn ausreichend Lebensmittel in den Gazastreifen gelassen werden.

Erste Ausrufung einer Hungersnot im Nahen Osten

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist es das erste Mal, dass in einem Land des Nahen Ostens eine Hungersnot ausgerufen wird. "Ein sofortiger Waffenstillstand und die Beendigung des Konflikts sind von entscheidender Bedeutung, um eine ungehinderte, großangelegte humanitäre Hilfe zur Rettung von Menschenleben zu ermöglichen", teilte die Initiative mit. 

UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher kritisierte, dass sich Lebensmittel an den Grenzen stauten und appellierte an den israelischen Premier Benjamin Netanjahu. "Lassen Sie uns Lebensmittel und andere Hilfsgüter ungehindert und in großem Umfang hineinbringen. Beenden Sie die Vergeltung."

Die IPC-Initiative geht davon aus, dass sich die Hungersnot im Laufe des Septembers auch auf die weiter südlich gelegenen Regionen Chan Yunis und Deir al-Balah ausweiten könnte.

Israel sagt trotz IPC-Belegen es "gibt keine Hungersnot"

Das israelische Außenministerium teilte nach der IPC-Veröffentlichung dagegen mit: "Es gibt keine Hungersnot in Gaza." Die Einschätzung der IPC sei erfunden, um einer "Fake-Kampagne der Hamas" gerecht zu werden. Seit Kriegsbeginn seien mehr als 100.000 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gelangt. In den vergangenen Wochen habe die "große Menge an Hilfsgütern" zu einem "starken Rückgang der Lebensmittelpreise" geführt.

Die Zahl der von Israel veröffentlichten Lastwagen-Lieferungen lässt sich derzeit nicht unabhängig bestätigen. 100.000 Lkw-Ladungen reichen jedoch bei Weitem nicht aus, wie Hilfsorganisationen wiederholt betont haben. Vor dem 7. Oktober 2023 kamen nach Angaben der Organisation Medico International zwischen 500 bis 600 Lastwagen täglich in den Gazastreifen. Das ergäbe bei dem seit 685 Tagen andauernden Krieg eine Menge von 342.500 bis 411.000 Lastwagen - deutlich mehr als die von Israel verzeichneten 100.000 Lkw. Hinzu kommt, dass der Bedarf durch die massive Zerstörung der Infrastruktur und landwirtschaftlichen Flächen nun deutlich höher liegen dürfte als vor Beginn des Krieges.

Strikte Kriterien für Erklärung von Hungersnot

Ehe eine Hungersnot erklärt wird, müssen drei Kriterien erfüllt sein: Mindestens 20 Prozent der Haushalte sind von einem extremen Lebensmittelmangel betroffen, mindestens 30 Prozent der Kinder leiden unter akuter Mangelernährung und täglich sterben mindestens zwei Erwachsene oder vier Kinder pro 10.000 Einwohner an Hunger oder aufgrund des Zusammenspiels von Unterernährung und Krankheit. Alle drei treffen zu, wie Jean-Martin Bauer vom Welternährungsprogramm (WFP) in einem Briefing für Journalisten in Genf sagte. 

In der IPC-Skala gibt es fünf Stufen der Ernährungslage in einem Land oder einer Region. Die allerhöchste - und schlimmste - ist Stufe fünf: "Katastrophe/Hungersnot". Darunter spricht man von "Hungerkrisen". Bislang galt für den gesamten Gazastreifen die Stufe vier ("Emergency/Notfall"). 

Die IPC-Initiative wurde 2004 gegründet. Mitglieder sind knapp zwei Dutzend Organisationen der Vereinten Nationen, sowie Hilfsorganisationen. Sie ist für die Einschätzung von Hungerlagen in aller Welt zuständig. In den vergangenen 15 Jahren wurden nach IPC-Angaben vier Hungersnöte bestätigt: 2011 in Somalia, 2017 und 2020 im Südsudan und zuletzt 2024 im Sudan.

Menschenrechtskommissar spricht von Kriegsverbrechen

Seit Monaten warnen Hilfsorganisationen und die Vereinten Nationen vor der katastrophalen Lage im Gazastreifen. Der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk machte die israelische Regierung für die Hungersnot im nördlichen Gazastreifen verantwortlich. Dies sei das "direkte Ergebnis der von der israelischen Regierung ergriffenen Maßnahmen", erklärte Türk. Der Einsatz von Hunger als Waffe sei ein Kriegsverbrechen.

Die israelische Militärbehörde Cogat wirft den Vereinten Nationen im Gegenzug vor, unbewiesene Behauptungen zu verbreiten. Cogat verweist auf die Hamas, der sie eine "Lügenkampagne über Hungersnot" vorwirft - trotz der ausführlichen IPC-Dokumentation.

Entwicklungsministerin mahnt mehr Hilfe an

Deutschlands Entwicklungsministerin Reem Alabali Radovan forderte, deutlich mehr Hilfe im Gazastreifen zuzulassen. Der Bericht der zuständigen IPC-Initiative zeige deutlich die katastrophale Lage in Gaza, erklärte die SPD-Politikerin.

"Immer mehr Menschen - und vor allem Kinder - verhungern vor unseren Augen. Es darf nicht so weitergehen. Die Hungersnot ist ausschließlich menschengemacht", so Alabali Radovan. "Der Zugang zu Hilfslieferungen hat sich zwar leicht verbessert, aber der IPC Report zeigt auch, das reicht bei Weitem nicht aus. Es braucht einen sofortigen Waffenstillstand und gleichzeitig gilt: Die Hamas muss die Geiseln sofort und bedingungslos freilassen."

CARE wirft Israel gezielte Belagerung vor

Auch die Hilfsorganisation CARE forderte Israel auf, die Grenzen für deutlich mehr Hilfsgüter zu öffnen. Die Belagerung müsse beendet werden. "Die Menschen haben monatelang Hunger, Bombardierungen und Vertreibung überlebt, doch jetzt droht ihnen in Gaza das Verhungern", sagte Jolien Veldwijk, Landesdirektorin von CARE Palästina.

Die Blockade verhindere, dass Lebensmittel und Hilfsgüter die Bedürftigsten erreichten. "Angesichts des bevorstehenden Angriffs auf Gaza-Stadt bleibt vielen nichts anderes übrig, als sich zu Fuß auf den gefährlichen Weg in den Süden Gazas zu machen, wo sie erneut in überfüllten Lagern ohne das Nötigste zum Überleben untergebracht werden."

IPC-Methodik Die Untersuchung der IPC wurde vom 30. Juli bis zum 4. August 2025 durchgeführt. Unter der Leitung der PC Global Support Unit wurden etwa 50 Experten von 19 Organisationen in die Analyse einbezogen. Die IPC beruft sich auf unterschiedliche Datenquellen. Mit computergestützten Telefoninterviews wurden demnach zwischen 1. und 29. Juli Menschen im Gazastreifen befragt. Die Befragten - 1.004 Haushalte, die das Interview komplett durchliefen - seien zufällig ausgewählt worden.
In persönlichen Gesprächen seien 748 Haushalte zwischen 13. und 21. Juli 2025 erneut interviewt worden.
Als dritte Quelle nennt die IPC eine qualitative Analyse von Informationen, die während wöchentlicher Reisen innerhalb des Gazastreifens gesammelt wurden. Daten von 70 Haushalten in zugänglichen Gegenden im Großraum Gazas, Deir al-Balah und Chan Yunis seien innerhalb von sechs Wochen erfolgreich gesammelt worden. 51 Prozent der untersuchten Haushalte hätten eine Einkommensquelle gehabt.
In dem Bericht berücksichtigt die IPC zudem Angaben von Hilfsorganisationen, Israel und der Vereinten Nationen. Die UN bezieht sich in ihren Berichten unter anderem auf Angaben von Behörden, die von der Terrororganisation Hamas kontrolliert werden. Diese können nicht unabhängig überprüft werden. Auch Daten Israels können in vielen Fällen nicht unabhängig verifiziert werden.

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