Inhalt des Artikels:

  • Albanien plötzlich Zuwanderungsland
  • Abwanderung aus Albanien als Ventil?
  • Freiheit für alle – außer für albanische Ärzte
  • Strategie gegen Abwanderung fehlt

Eine junge Frau legt eine Schablone auf beiges Kunstleder und zieht deren Konturen mit einem schwarzen Stift nach. Im Hintergrund klackern die Nähmaschinen einen gleichmäßigen Takt. An diesem Vormittag führt die Fabrikbesitzerin durch ihre Werkhalle und erklärt die Arbeitsschritte. "Das sind die Linien, auf denen später die Naht verläuft", sagt Donika Mici. Die robuste Frau im pinken Sommerkleid leitete einst fünf Fabriken. Dass es heute nur noch drei sind, liegt nicht an fehlenden Aufträgen.

Fabrikbesitzerin Donika Mici fehlen Arbeitskräfte.Bildrechte: Anja Troelenberg/ MDR

"Nach der Pandemie wanderten viele Arbeiterinnen aus – auch, weil in Westeuropa selbst ein akuter Mangel an Arbeitskräften herrscht." Albanien gilt seit Langem als Auswanderungsland, vor allem gut ausgebildete Fachkräfte zieht es ins Ausland. Zwischen 2015 und 2020 beantragten über 300.000 Albaner eine Aufenthaltsgenehmigung in der EU, die meisten in Italien, Griechenland und Deutschland. "Diese Menschen fehlen dann bei uns", sagt Fabrikbesitzerin Mici. "Irgendwann wurde klar, dass wir ohne ausländische Arbeitskräfte nicht mehr auskommen würden."

Albanien plötzlich Zuwanderungsland

Über eine Vermittlungsagentur stellte Mici insgesamt 85 Arbeiter aus Südostasien ein. Eine von ihnen ist Joy aus Myanmar – große Brille, breites Lächeln. Mit geübtem Griff entfernt sie die Reste des schwarzen Markierstifts unter der Naht. Seit acht Monaten lebt sie in Albanien, in einem schlichten Flachbau auf dem Fabrikgelände. Neben einer Unterkunft und dem gesetzlichen Mindest­lohn von knapp über 400 Euro erhält sie auch Verpflegung und medizinische Versorgung.

Joy aus Myanmar ist zum Arbeiten in einer Schuhfabrik nach Albanien gekommen.Bildrechte: Anja Troelenberg/ MDR

Die Geschichte von Joy ist Teil eines größeren Trends. Immer häufiger trifft man in Albanien auf Menschen von den Philippinen, aus Ägypten oder Nepal – in Restaurants und Hotels, auf Fischerbooten und Baustellen. Laut offiziellen Angaben hat sich die Zahl der erteilten Arbeits­genehmigungen für Ausländer zwischen 2020 und 2023 verdreifacht: von gut 3.300 auf knapp 10.000.

Im Wahlkampf 2021 empfahl Premierminister Edi Rama einem Fabrikbesitzer vor laufender Kamera, Arbeiter aus Bangladesch oder Pakistan einzustellen. Diese würden kein Albanisch sprechen und sich deshalb auch nicht für Politik, Demokratie oder Freiheit interessieren. Bei vielen Menschen in Albanien kam diese Äußerung nicht gut an.

Abwanderung aus Albanien als Ventil?

Um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken, vereinfachte die Regierung die Verfahren zur Anstellung ausländischer Bewerber. Arbeitsmigration soll die Lücken schließen, die die anhaltende Abwanderung hinterlässt. "Das ist allenfalls eine kurzfristige Notlösung", sagt Dhimitër Doka, Migrationsforscher und Geograf an der Universität Tirana. Sie verursache Mehrkosten für die Unternehmen und sorge für Instabilität auf dem Arbeitsmarkt. "Viele Migranten nutzen Albanien lediglich als Sprungbrett nach Westeuropa." Auch in Donika Micis Fabrik sind von den bisher 85 eingestellten ausländischen Arbeitskräften nur 22 geblieben – die meisten seien weiter ins benachbarte Griechenland gezogen.

Doch das eigentliche Problem liegt für Migrationsforscher Doka in der andauernden Abwanderung der Albaner selbst. Wie man diese Entwicklung stoppen könne? "Dafür ist es fast schon zu spät", sagt er. "Je mehr Familienmitglieder im Ausland leben, desto wahrscheinlicher ist es, dass weitere nachziehen." Die Politik könne jedoch gezielter die Rückkehr von Menschen fördern, die im Ausland studiert oder Berufserfahrung gesammelt haben. Migration sei dabei nicht grundsätzlich negativ, betont Doka, denn sie ermögliche den Austausch von Wissen und Kapital. Geldüberweisungen aus dem Ausland sicherten nicht nur den Lebensunterhalt von Familienmitgliedern in Albanien, sondern würden auch für Investitionen genutzt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich argumentieren, dass die Regierung die Abwanderung stillschweigend einkalkuliert. Nicht nur aus finanziellen Erwägungen, sondern auch als Ventil für jene Bürger, die mit niedrigen Löhnen und der verbreiteten Korruption im Land unzufrieden sind. Belegen lässt sich das jedoch kaum. Fest steht: Den Verlust nimmt sie hin, nur bei Ärzten gelten andere Regeln.

Freiheit für alle – außer für albanische Ärzte

Viele Mediziner sind in den vergangenen Jahren gegangen, vor allem nach Deutschland. Vermittlungsagenturen rekrutieren inzwischen direkt an den Universitäten. Der Fachkräftemangel, könnte man sagen, ist weitergezogen – von Deutschland auf den Balkan.

"Ich kann mir ein Leben im Ausland nicht vorstellen", sagt Paola Brusha, Medizinstudentin an der Universität Tirana. Trotzdem protestierte sie im Herbst 2023 vor dem Gesundheitsministerium gegen einen Gesetzesentwurf, der Absolventen verpflichten sollte, fünf Jahre nach ihrem Abschluss im eigenen Land zu bleiben. Die Regierung nannte es eine notwendige Maßnahme um die Abwanderung junger Ärzte zu stoppen.

Medizinstudentin Paola Brusha will gern in Albanien bleiben.Bildrechte: Anja Troelenberg/ MDR

Das endgültige Gesetz sieht nur noch eine dreijährige Verpflichtung vor – wer früher geht, muss jedoch die Studienkosten zurückzahlen. Studierende reichten dennoch Verfassungs­beschwerde ein, mittlerweile liegt der Fall beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. "Wer bleiben soll, muss überzeugt werden – durch bessere Bedingungen, nicht durch Zwang", sagt Paola Brusha und meint damit bezahlte Praktika und gut ausgestattete Kliniken. Viele entschieden sich erst für die Auswanderung, nachdem sie die Zustände vor Ort erlebt hätten.

Strategie gegen Abwanderung fehlt

Für Migrationsforscher Dhimitër Doka ist das Gesetz reine Symbolpolitik. Man wolle zeigen, dass man etwas tut – und opfere dafür die Medizinstudierenden. "Aber das Land braucht nicht nur Ärzte, sondern auch Lehrer und Ingenieure." Die Abwanderung sei ein strukturelles Problem, eine nachhaltige Strategie stünde noch aus.

Während angehende Ärzte um ihre Entscheidungsfreiheit kämpfen, hat Joy ihre Wahl längst getroffen. Sie will in Albanien bleiben. In der Fabrik reicht sie den halbfertigen Schuh an die nächste Werkbank weiter. "Albanien ist ein schöner und friedlicher Ort mit gutem Essen", sagt sie. "Nur das Wetter ist ein bisschen zu heiß."

MDR (usc)

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