Haben Mitarbeiter von Ministerpräsident Netanjahu geheime Informationen durchgestochen, um die Öffentlichkeit zu manipulieren? Die Affäre lässt Israels Regierung nicht los. Mittendrin: die Bild-Zeitung.
Alles begann mit furchtbaren Nachrichten aus dem Gazastreifen: Dort hatte die israelische Armee am 31. August letzten Jahres die Leichen von sechs Geiseln gefunden. Sie waren nach israelischen Angaben in einem Tunnel im Süden des Gazastreifens zuvor von ihren Bewachern erschossen worden, als sich israelische Truppen näherten.
Für viele Menschen in Israel war das ein weiterer Beleg, dass der Krieg in Gaza nicht für die Freilassung der Geiseln sorgt, sondern sie vielmehr in Gefahr bringt.
Scoop oder Schachzug?
Danach gingen in Israel Hunderttausende auf die Straße - es waren die größten Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg seit dem 7. Oktober 2023. Ausgerechnet in diesen Tagen veröffentlichte die Bild-Zeitung einen vermeintlichen Scoop, der sogar das israelische Kabinett beschäftigte.
Auf gewohnt reißerische Art titelte das Boulevardblatt: "Zum Schaudern! Das plant der Hamas-Chef mit den Geiseln: Jetzt wird das geheime Kriegspapier des Terror-Bosses enthüllt". In dem Beitrag ging es um ein bis dahin unbekanntes und von der israelischen Armee als geheim eingestuftes Dokument, das angeblich auf einem Computer in einem Tunnel im Gazastreifen gefunden worden war. Laut Bild stand darin, dass Jihia Sinwar, der inzwischen getötete Hamas-Chef in Gaza, nicht an einem Deal zur Freilassung weiterer Geiseln und zu einer Waffenruhe interessiert sei und weiterhin über die Geiseln psychologischen Druck auf Israel ausüben wolle. Das Schreiben stamme vom Frühjahr 2024 und liege Bild exklusiv vor.
Die Veröffentlichung war sogar Thema im israelischen Kabinett: Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagte dort am 8. September 2024, zwei Tage nach dem Erscheinen des Beitrags, die Bild-Zeitung habe ein offizielles Hamas-Dokument veröffentlicht. Demnach sei der Plan der Hamas, den Druck auf die israelische Regierung von innen und außen zu verstärken.
Der Veröffentlichungszeitpunkt kurz nach den Massendemonstrationen gegen die Regierung war, israelischen Medien zufolge, kein Zufall. Das Dokument wurde nach Angaben der israelischen Armee schon Monate zuvor gefunden - und stammt demnach nicht von Hamas-Chef Sinwar. Doch die Botschaft für die israelische Öffentlichkeit war: Die, die gegen den Krieg in Gaza auf die Straße gehen, sind nützliche Idioten der Hamas. Frei nach dem Motto: Verhandeln bringt nichts.
Ermittler erheben schwere Vorwürfe
Nach der Veröffentlichung des Beitrags nahm die Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara Ermittlungen auf, um die Quelle des Leaks ausfindig zu machen. Für die Ermittlungsrichter in dem Fall ist inzwischen bewiesen, dass die Unterlagen von engen Mitarbeitern Netanjahus durchgestochen wurden.
Ende November wurden der Reserveoffizier Ari Rosenfeld und Eli Feldstein, einer der Sprecher Netanjahus, unter dem Vorwurf des Geheimnisverrats und der Gefährdung der Arbeit des israelischen Geheimdienstes angeklagt. Auch die Bild-Zeitung wird in der Anklageschrift genannt. Mehrere Medien, nicht nur in Israel, werfen ihr vor, sich mit der Veröffentlichung des Dokuments und dem Weglassen darin enthaltener Informationen zum Erfüllungsgehilfen der israelischen Regierung gemacht zu haben.
Möglicherweise werden nun noch weitere enge Vertraute Netanjahus angeklagt. Vergangene Woche warf Generalstaatsanwältin Baharav-Miara dem Netanjahu-Berater Jonatan Urich vor, auch er und ein weiterer Mitarbeiter des Ministerpräsidenten seien an der Weitergabe der klassifizierten Dokumente an die Bild-Zeitung beteiligt gewesen in der Absicht, die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen. Netanjahu wies diesen und andere Vorwürfe als politisch motiviert zurück.
Die Bild erklärte zu den Vorwürfen, sie äußere sich nicht zu ihren Quellen, die Berichterstattung beruhe auf authentischen Quellen. Die Beziehungen der Bild-Zeitung zur israelischen Regierung sind eng: Schon vor dem Skandal erschienen in dem Blatt zwei exklusive Interviews mit Ministerpräsident Netanjahu, die vielen anderen Medien verwehrt werden. Reporter der Bild-Zeitung konnten im Gefolge der israelischen Armee schon früh aus dem Gazastreifen berichten.
War Netanjahu informiert?
Oppositionsführer Yair Lapid dagegen hatte schon Ende letzten Jahres die Frage gestellt, was Netanjahu wusste. Er forderte die Ermittler auf, zu untersuchen, ob die Weitergabe des geheimen Dokuments auf dessen Veranlassung hin geschehen sei.
Für Lapid war klar, dass das Ziel der Veröffentlichung gewesen sei, ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln zu torpedieren. Tatsächlich kam ein solches Abkommen unter großem Druck aus den USA erst mehr als vier Monate später, im Januar 2025 zustande.
Bei Angehörigen der Geiseln sorgt das bis heute für Wut, beispielsweise bei Gil Dickmann, dessen Cousin Gat eine der erschossenen Geiseln war. "Plötzlich sahen wir eine ganze Welle von Veröffentlichungen, die das Ziel hatten, uns zu verleumden", sagt er im Gespräch mit dem israelischen Radiosender KAN. "All das nur, damit sich die Menschen nicht den Familien anschließen, die dazu aufrufen, dass die Geiseln schnell freigelassen werden müssen - bevor sie getötet werden."
Innenpolitische Krise
Innenpolitisch ist der Fall aktueller denn je: Netanjahus Regierung hat in den vergangenen Wochen viel unternommen, um Baharav-Miara, die Generalstaatsanwältin, abzusetzen. Eine Entscheidung könnte fallen, bevor am kommenden Wochenende im israelischen Parlament die dreimonatige Sommerpause beginnt. Beobachter gehen davon aus, dass die Versuche, die oberste Strafermittlerin Israels zu beseitigen, auch mit den Ermittlungen im engsten Umfeld von Netanjahu rund um das Bild-Leak zusammenhängen.
Der Versuch, Baharav-Miara abzusetzen, könnte sogar in einer Verfassungskrise münden. Die Generalstaatsanwältin hat sich an den Obersten Gerichtshof gewandt, um ihre Entlassung abzuwenden. Einzelne Regierungsmitglieder haben aber schon angekündigt, ein mögliches Urteil des Obersten Gerichtshofs gegen eine Entlassung Baharav-Miaras nicht akzeptieren zu wollen.
Angehörige verlangen Akteneinsicht
Die Angehörigen der Geiseln wollen hingegen den Druck erhöhen. Rubi Chen erklärte vor wenigen Tagen dem Radiosender KAN, sich der Klage gegen die Netanjahu-Mitarbeiter Rosenfeld und Feldstein anzuschließen. Er ist der Vater des Deutsch-Israelis Itay Chen, der inzwischen für tot erklärt wurde, dessen Leiche aber immer noch im Gazastreifen festgehalten wird. "Nur so können wir auch die Ermittlungsergebnisse einsehen und genau verstehen, was diese beiden Herren angestellt haben", sagte Rubi Chen.
Der Vater ist sich sicher, dass das Ergebnis dieser Kampagne im September dazu führte, dass Geiseln, die noch am Leben waren, getötet wurden. "Wir warten noch immer darauf, dass 50 Geiseln zurückkehren."
Netanjahu bleibt bei seinem Kurs
Und Netanjahu? Nachdem während der Waffenruhe von Januar bis März dieses Jahres 33 Geiseln freigekommen waren, hat Israel den Krieg in Gaza wieder aufgenommen. Zurzeit laufen zwar wieder Gespräche über eine neue Waffenruhe und die Freilassung weiterer Geiseln. Sie werden zwar konkreter, scheinen aber weiterhin nicht die höchste Priorität für die israelische Regierung zu haben, denn rechtsextreme Koalitionspartner Netanjahus lehnen ein Ende des Kriegs ab und drohen mit dem Austritt aus der Regierung..
Die humanitäre Krise im Gazastreifen weitet sich derweil aus. Und Netanjahu selbst weist seit Monaten die Anschuldigungen gegen ihn und seine Mitarbeiter zurück. Er spricht von einer "systematischen Hexenjagd" und von "bösartigen Behauptungen".
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