Es geht um jahrelangen, von Banden organisierten sexuellen Missbrauch von Mädchen. Großbritannien diskutiert wieder über den Grooming-Gang-Skandal. Doch die Debatte wurde längst von Rechtsradikalen gekapert.

Aus ihrem Vorgarten am Rande der nordenglischen Stadt Bradford schaut Fiona Goddard in die Hügellandschaft. Sie steht gern hier, vor allem am Morgen, wenn die Kinder noch im Bett sind.

"Ich schlafe kaum, nachts kommt alles hoch", erzählt sie. Sie war 13, lebte in einem Kinderheim in Bradford, als ältere Männer den Kontakt zu ihr und ihren Freundinnen suchten. Bald kauften sie ihr Wodka, fuhren sie in Autos herum, luden sie zu angeblichen Partys ein.

"Sie haben eine emotionale Verbindung aufgebaut" - es ist das, was im Bereich der Pädokriminalität "Grooming" genannt wird. "Dann begannen die Gehirnwäsche, die rohe Gewalt und die Vergewaltigungen. Einmal kam ich zurück ins Kinderheim und Blut floss mir die Beine herunter, ich hatte Würgemale und am Rücken Prellungen in Form eines Badewannenstöpsels." Ihre Betreuer im Heim hätten viel mitbekommen, aber nichts gemeldet, sagt sie.

Fiona Goddard hat heute eine eigene Familie. Nachts liegt sie oft wach, wenn sie an das denkt, was ihr als 13-Jähriger wiederfahren ist.

Tausende Betroffene

Landesweit gibt es Tausende, wohl Zehntausende betroffene Frauen und Mädchen, aber keine verlässlichen Statistiken. Meist sind die Banden in organisierte Drogen- oder Waffenkriminalität involviert. Viele verurteilte Täter haben britisch-pakistanische Wurzeln - auch die Männer, die Fiona Goddard missbraucht haben.

Auf ihrem TikTok-Account hat sie einen Artikel über die Verurteilung aus dem Jahr 2019 gepostet. Neun Männer kamen ins Gefängnis mit Haftstrafen von 18 Monaten bis 20 Jahren.

Anwältin Amy Clowrey spricht von einem "politischen Faktor", der die Aufarbeitung verzögert habe. Niemand habe als Rassist gelten wollen.

"Politischer Faktor verzögerte Aufarbeitung"

Die auf Grooming-Gangs spezialisierte Anwältin Amy Clowrey hat Goddard in einer Zivilklage vertreten und kennt die Leidensgeschichten hunderter Frauen. Die ersten Fälle liegen rund 30 Jahre zurück. "Die Mädchen und alle, die es meldeten, wurden lange ignoriert."

Selbst manche Sozialarbeiter und Polizisten hätten Mädchen im Alter von 14, 15 oder 16 Jahren als Kinderprostituierte bezeichnet. "Aus heutiger Sicht ist klar: Kinder können keine Prostituierten sein, sie sind minderjährig. Sie werden missbraucht." Außerdem, so die Juristin, habe es einen "politischen Faktor" gegeben, der die Aufarbeitung verzögert habe. "Niemand wollte als Rassist gelten."

Viele Berichte ohne Konsequenzen

In den frühen 2010er-Jahren sorgten erste Artikel in den englischen Medien über die Grooming-Gangs für großes Aufsehen. Seitdem ringt Großbritannien mit dem Skandal. Immer wieder wurden auch von Regierungsseite Untersuchungen in Auftrag gegeben und viele klare Empfehlungen gegeben, zuletzt im sogenannten Jay-Report im Jahr 2022. Aber die Konservativen, die bis 2024 die Regierung stellten, setzten sie nicht um.

Im Dezember entfachte Elon Musk die Debatte neu: Der US-Tech-Milliardär feuerte Hunderte Posts über Grooming-Gangs ab, durchzogen von Falschinformationen und Hetze. Unter anderem beschuldigte Musk Premier Keir Starmer, in seiner damaligen Funktion als Generalstaatsanwalt "Komplize" gewesen zu sein, bei der "Vergewaltigung Großbritanniens", wie Musk es bezeichnete. 

Das britische Parlament diskutierte in jenen Wochen gerade darüber, ob es eine weitere landesweite Untersuchung zum Thema geben müsse. Starmer war dagegen. Die Regierung wolle kein Geld und keine Zeit mit einer weiteren Untersuchung verschwenden, sondern lieber die mittlerweile identifizierten Probleme angehen, meinte er. Mitte Juni musste Starmer eine Kehrtwende machen und kündigte doch eine umfassende landesweite Untersuchung an.

Innenministerin Yvette Cooper stellte im Juni 2025 im Parlament die Ergebnisse eines weiteren Berichts vor. Ein Ergebnis: Die Herkunft der Täter wurde zum Großteil nicht erfasst.

Der Casey-Bericht

Die sei nötig, so das Urteil eines von der Regierung beauftragten Vorberichts, angefertigt von der angesehenen Prüferin Louise Casey, die im britischen Oberhaus sitzt. Auch in der Frage zur Täterherkunft gebe es Versäumnisse. "Informationen zur ethnischen Herkunft wurden bei zwei Dritteln der Grooming-Gang-Täter nicht erfasst. Deshalb können auf nationaler Ebene keine Aussagen zur Herkunft getroffen werden", resümierte Innenministerin Yvette Cooper Mitte Juni im Parlament.

Aber, so heißt es in dem Casey-Bericht: "Daten zu Ermittlungen in drei Polizeibezirken zeigen, dass dort überdurchschnittlich viele Verdächtige aus der britisch-pakistanischen Community kommen."

Die ethnische Zugehörigkeit der an Grooming-Gangs beteiligten Personen sei von den Behörden "gemieden" worden. Schon jetzt setzt die Regierung eine Empfehlung Caseys um: Künftig muss in allen Fällen von sexuellem Missbrauch und sexueller Ausbeutung auch die ethnische Zugehörigkeit erfasst werden. So solle mehr Klarheit geschaffen werden.

Seit Langem werden die Vergewaltigungen rund um die Grooming-Gang-Skandale immer wieder auch von Rechtsextremen in Großbritannien aufgegriffen, darunter vom bekanntesten - dem zu einer Haftstrafe verurteilten Rechtsradikalen Tommy Robinson.

Rechtes Lager besetzt das Thema

Längst haben rechte und rechtsradikale Kreise das Thema besetzt. An einem heißen Samstag Ende Juni versammeln sich ein paar tausend Menschen in einem Londoner Park und ziehen Richtung Downing Street. Die Gruppierung, die diesen Protest organisiert hat, steht der Hooligan-Szene nah und gilt Behörden als islamfeindlich und rechtsextrem.

"Für die Kinder", steht auf Plakaten. Immer wieder skandieren sie den Namen des wohl bekanntesten rechtsradikalen Aktivisten Englands: Tommy Robinson - der mit bürgerlichem Namen eigentlich Stephen Yaxley-Lennon heißt. Auch Verschwörungstheorien aus dessen Umfeld hatte Musk verbreitet.

Ein Demonstrant hält ein Plakat hoch, das Starmer hinter Gittern zeigt. "Alle, die weggesehen haben bei diesem Missbrauch, sind Kriminelle", sagt er. "Und dieser Typ, unser Premierminister, der ist genauso schuldig. Er wollte keine nationale Untersuchung. Wir haben ihn dazu gezwungen."

Tatsächlich reagierte Premier Starmer mit seiner Kehrtwende und dem neuen Untersuchungsbericht wohl auch maßgeblich auf den Druck, der nach den Posts von Elon Musk und den Aussagen von Rechtsaußen entstanden war. Und tatsächlich kam erst durch den Casey-Bericht heraus, dass der Skandal noch nicht vollkommen aufgearbeitet ist - wie von vielen noch bis vor kurzem angenommen.

Casey selbst sagte nach der Veröffentlichung ihres Berichtes, dass sie nicht damit gerechnet habe, wie wenig sich mancherorts verändert habe. Sie setzt darauf, dass mit der von ihr verordneten Untersuchung vor allem der Druck auf Städte und Regionen wächst, in denen es bisher keine oder keine ausreichende Untersuchung und Aufarbeitung gegeben hat. 

Sozialarbeiterin Jayne Senior kennt die Geschichten zahlreicher Opfer des Skandals. Sie sagt: "Wie kann Kindesmissbrauch ein politisches Schlachtfeld sein?"

"Rechtsextreme haben die Debatte infiltriert"

Die Stadt Rotherham, etwa eine Autostunde von Bradford entfernt, steht wie keine andere für das Phänomen der Grooming-Gangs. Hier wurden die ersten Fälle bekannt, ganz wesentlich durch die Sozialarbeiterin Jayne Senior, die heute am Stadtrand ein Hilfszentrum für Mädchen und Frauen leitet. Sie gehörte vor rund 15 Jahren zu denen, die Alarm schlugen und anonym mit Medien sprachen, nachdem Mädchen sich ihr anvertraut hatten. Örtliche Behörden hätten ihr in den ersten Jahren verboten, öffentlich anzusprechen, dass es vor allem um Männer mit pakistanischen Wurzeln gehe, sagt sie.

"Wir haben in all den Jahren in unseren Städten die Chance verpasst, die schwierigen, schmerzhaften Gespräche zu führen, gerade auch mit Vertretern der pakistanisch-britischen Community", sagt Senior. "Jetzt haben längst Rechtsextreme die Debatte infiltriert." Wenn sie von rechtsradikalen Märschen und Aktionen hört, klingt sie niedergeschlagen: Das mache alles nur noch schlimmer. 

Senior ist eine von denen, die schon lange eine umfassende landesweite Untersuchung fordern. "In Rotherham wurde vieles über die Jahre aufgeklärt, aber das ist ein landesweites Problem - nicht nur in der Vergangenheit. Und ich hoffe, dass jetzt auch wirklich etwas passiert und nicht alle das Thema nach dieser neuesten Aufmerksamkeitswelle erstmal wieder vergessen."

Ebenfalls bitter klingt sie, wenn sie über die Dauerstreitereien der Labour-Partei und der Konservativen rund um Grooming-Gangs spricht. "Ich gucke mir das alles an und frage mich: Wie kann Kindesmissbrauch ein politisches Schlachtfeld sein?"

Mitarbeit: Rabea Hayes

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