Am Schweizer Gornergletscher soll ein Stausee entstehen. Wo heute noch Gletschereis liegt, muss dafür das Hochgebirgstal geflutet werden. Ist das ein sinnvoller Beitrag für mehr Energiesicherheit - oder beschleunigt es die Gletscherschmelze?

Benedikt Perren blickt ins Gornergletschertal, das er kennt wie kaum ein anderer. Seit fast vierzig Jahren führt der Bergführer Touristen durch die Landschaft des Monte-Rosa-Massivs. Mit seinen rund 13 Kilometern Länge ist der Gornergletscher der drittlängste Gletscher der Alpen. Der Klimawandel aber setze dem Gletschermassiv zu, sagt Perren und zeigt auf die sichtbare Teilung des Gletschers.

Das Eis schmilzt. Der Gletscher hat sich durch die steigenden Temperaturen in zwei Teile aufgetrennt, bestätigt Glaziologe Daniel Farinotti. Er erforscht an der ETH Zürich, wie sich die Schweizer Gletscher durch den Klimawandel verändern. Falls die globale Erwärmung nicht auf 1,5 bis 2 Grad begrenzt werde, könnte es bis zum Ende des Jahrhunderts gar keine Gletscher mehr in der Schweiz geben, so sein bisheriger Forschungsstand.

Gletschereis des Gornergletschers im Tal. Der Gletscher ist rund 13 Kilometer lang - und der Klimawandel setzt dem eisigen Riesen zu.

Schmelzwasser für die Energiegewinnung

Bevor das Eis vollständig schmilzt, will die Schweizer Regierung die Initiative ergreifen. Das Schmelzwasser soll zur Energiegewinnung genutzt werden. Im sogenannten "Stromversorgungsgesetz", dem rund 69 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer im Juni 2024 zugestimmt haben, wurden erstmals 16 Wasserkraftprojekte gesetzlich festgeschrieben.

Das sogenannte Gornerli-Projekt ist eines der bedeutendsten von ihnen - und gleichzeitig eines der umstrittensten. 300 Millionen Schweizer Franken soll das Projekt kosten.

85 Meter hoch und 245 Meter lang soll die Staumauer werden, die das Schmelzwasser aufstauen soll. Dadurch würden Teile des noch nicht geschmolzenen Gletschers unter Wasser gesetzt. In der Folge würde der Gletscher reagieren, das Eis im Gornergletschertal könnte womöglich schneller schmelzen, so Glaziologe Farinotti.  

85 Meter hoch und 245 Meter lang soll die Staumauer werden, die das Schmelzwasser aufstauen soll.

Wird der Gletscher zu früh aufgegeben?

Der geplante Stausee und die unterirdischen Pumpstationen sollen in das bereits bestehende Kraftwerksystem des Wasserkraftwerksbetreibers Grande Dixence SA integriert werden. Sobald das Eis vollständig geschmolzen ist, sollen 140.000 Haushalte mit grünem Strom versorgt werden können, auch im energieintensiven Winter.

Neben der Stromproduktion fungiere der geplante Stausee auch als Trinkwasserspeicher und Rückhaltebecken zum Schutz vor Hochwassern und Naturgefahren, betont das Unternehmen.

Bis das Eis vollständig geschmolzen ist, könnte es aber noch rund drei Jahrzehnte dauern. Es ist vor allem der Zeitpunkt und der Umfang des Projekts, den Bergführer Benedikt Perren kritisiert. Der Gletscher werde zu früh aufgegeben, wichtige Skirouten verbaut. Der Stausee erhöhe außerdem das Risiko, dass durch Bergstürze Flutwellen ausgelöst werden.

Bauvorhaben sollen schneller umgesetzt werden

Den geplanten Eingriff in die bislang unberührte Landschaft des Gornergletschers sieht auch die Stiftung Landschaftsschutz der Schweiz kritisch. Co-Geschäftsleiterin Franziska Grossenbacher verweist auf ein unabhängiges Gutachten der Heimatschutzkommission, aus dem hervorgehe, dass acht der vierzehn Schutzziele für das Gebiet durch das Bauprojekt stark beeinträchtigt würden.

Die Kritik richtet sich auch an die Politik. Ein Teil des schweizer Parlaments will das sogenannte Verbandsbeschwerderecht für prioritäre Energieprojekte wie das Gornerli-Projekt aussetzen. Dadurch sollen die geplanten Bauvorhaben schneller umgesetzt werden. Umweltverbände hätten so nicht mehr die Möglichkeit, gerichtlich gegen Bauvorhaben vorzugehen. Im Moment suchen die beiden Kammern des Schweizer Parlaments einen Kompromiss im Streit um das Verbandsbeschwerderecht.

Das Bundeshaus in Bern. Ein Teil der Parlamentarier will rechtliche Hürden abbauen, damit das Bauvorhaben schneller umgesetzt wird. Am Ende aber hat die Bevölkerung das letzte Wort.

Entscheidung im Referendum?

Noch befindet sich das Gornerli-Projekt am Anfang. Die Bevölkerung der Gemeinde Zermatt kann das Projekt noch ablehnen. Auch deshalb prüft das Unternehmen mögliche Alternativideen, die einen kleineren Eingriff in die noch unberührte Natur bedeuten würden.

Wie genau die Zukunft des Gornerli-Projekts aussieht, entscheidet sich frühestens in einem Jahr. Wie so oft in der Schweiz heißt es dann: Am Ende hat die Bevölkerung das letzte Wort.

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