Inhalt des Artikels:

  • Gedenken an den "Todesmarsch" von 1995
  • Zeitzeugen und persönliche Erfahrungen
  • Das Genozid-Gedenken nahe Srebrenica
  • Genozid-Leugnung erschwert Vermissten-Suche
  • Bedeutung des Genozids für Deutschland
  • Zeichen der Hoffnung

Sejfuddin Dizdarević betrachtet es als glücklichen Zufall, dass er Anfang der 1990er Jahre nicht Opfer des Genozids an den bosnischen Muslimen geworden ist. Während des Bosnienkriegs 1992-95 hat Dizdarević zum allergrößten Teil in Düsseldorf gelebt. Seine Eltern hatten ihn in den ersten Monaten des Krieges als 15-Jährigen aus dem zentralbosnischen Zenica zu seiner Tante nach Düsseldorf geschickt. Dort lebt er mit seiner Frau und drei Kindern noch heute.

Sejfuddin Dizdarević nach Ende des "Friedensmarschs" 2023 an der Srebrenica-Gedenkstätte in Potočari.Bildrechte: Sejfuddin Dizdarević

Dizdarević will Dankbarkeit dafür zeigen, dass er am Leben ist, sagt er. Denn seine Familie hätte von der serbischen Politik der gewaltsamen Vertreibung und Ermordung betroffen sein können, blieb aber durch Flucht und günstige Umstände von den Massenverbrechen verschont. Eine direkte biografische Verbindung zu Srebrenica hat Dizdarević nicht, sagt er, aber: "Für mich steht Srebrenica stellvertretend für diesen Genozid, für den Willen, das Volk der Bosniaken auszulöschen. Und dass es in den anderen Teilen von Bosnien nicht passiert ist, lag es nicht am mangelnden Willen, sondern eher an den fehlenden Möglichkeiten, es umzusetzen, weil das bosnische Volk den Widerstand organisiert hatte."

Ethnische Gruppen in Bosnien und Herzegowina (bitte aufklappen)

1991 lebten in der jugoslawischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina weniger als 4,5 Millionen Menschen. Bei der letzten jugoslawischen Volkszählung ordneten sich 43,5 Prozent der Kategorie "Muslime" zu (heute: Bosniaken/ bosnische Muslime), 31,2 Prozent gaben an Serben zu sein, 17,4 Prozent Kroaten, knapp 8 Prozent bekannten sich als Jugoslawen oder Angehörige von Minderheiten. In Srebrenica lebten 1991 überwiegend muslimische Bosniaken, Seite an Seite mit bosnische Serben, die die Minderheit in dem Städtchen bildeten.

Der Genozid an den Bosniaken

Der Genozid von Srebrenica 1995 war der Höhepunkt des Völkermords an den muslimischen Bosniaken und wurde als solcher vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) bestätigt. Die Kampagne der "ethnischen Säuberungen" durch bosnisch-serbische Einheiten hatte mit Massentötungen, Vertreibungen und der Zerstörung der nicht-serbischen Bevölkerung aus ganz Ostbosnien 1992 begonnen.

In und um Srebrenica wurden im Juli 1995 über 8.300 meist bosniakische Männer und Jungen von den Serben getötet. Schon seit Beginn 1992 bereitete eine Reihe von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit den Boden für den Genozid in Srebrenica. Die Richter des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) sahen jedoch bis auf den Fall von Srebrenica nicht als erwiesen an, dass sie den Straftatbestand des Genozids erfüllen.

Was versteht man unter Völkermord/ Genozid?

Als Völkermord (Genozid) bezeichnet man nach einer 1948 verabschiedeten UN-Konvention die gezielte Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe – ganz oder teilweise. Völkermord begeht nicht nur, wer Mitglieder der Gruppe gezielt tötet, sondern auch wer schwere körperliche oder seelische Schäden verursacht, vorsätzlich die Lebensbedingungen der Gruppe so beeinflusst, dass sie sie zerstören könnten, Geburten in der Gruppe verhindert oder Kinder der Gruppe in eine andere Gruppe gewaltsam überführt. Um als Völkermord zu gelten, müssen diese Handlungen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.

Während des Genozids in Srebrenica im Juli 1995 exekutierten bosnisch-serbische Einheiten, die die Stadt eingenommen hatten, über 8.300 bosnische Muslime, überwiegend Männer und Jungen. Etwa 20.000 überwiegend Frauen und Kinder wurden aus Srebrenica Richtung bosnisch-muslimisch kontrolliertes Gebiet abtransportiert.

Heute fährt Sejfuddin Dizdarević regelmäßig nach Bosnien, so auch in diesem Juli. Er hat bei dem jährlichen Srebrenica-Gedenkmarsch – dem Friedensmarsch (Marš mira) – zum fünften Mal eine deutschsprachige Gruppe angemeldet, die er anleiten wird.

Gedenken an den "Todesmarsch" von 1995

Am Friedensmarsch aus der Nähe der bosnischen Stadt Tuzla nach Srebrenica nehmen jährlich Tausende aus Bosnien und der ganzen Welt teil. Für den diesjährigen Marsch am 8.-10. Juli melden die Veranstalter über 6.000 Teilnehmende. In drei Tagen laufen sie in umgekehrter Richtung entlang der rund 100 Kilometer lange Fluchtroute. Auf ihr versuchten im Juli 1995 über 10.000 Bosniaken, sich aus der von serbischen Einheiten besetzten UN-Schutzzone Srebrenica zu fliehen.

Die Route des Friedensmarschs in Erinnerung an den Genozid an den Bosniaken verläuft aus Nähe der Stadt Tuzla zur Gedenkstätte in Potočari bei Srebrenica.Bildrechte: MDR

Der Zug versuchte, sich durch die Stellungen der bosnischen Serben und unwegsame Berge auf Regierungsterritorium in der Nähe von Tuzla durchzuschlagen. Es wurde von der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina (ARBiH) gehalten, die gegen serbische Angreifer unter General Ratko Mladić kämpfte. Einen nur unzureichenden Schutz boten der Kolonne schlecht ausgerüstete Soldaten der ARBiH, die die Einnahme der Enklave Srebrenica nicht hatten verhindern können.

Den überwiegenden Teil der Männer in der Kolonne nahmen serbische Einheiten auf der Flucht gefangen und töteten sie. Andere starben an Erschöpfung oder Verletzungen – daher später auch die Bezeichnung "Todesmarsch".

Tausende Teilnehmer des Srebrenica-Gedenkmarschs können am Ende der Tagesetappen im Zeltlager übernachten (Bild: 2023).Bildrechte: Sejfuddin Dizdarević

Seit über 20 Jahren wird nun der Gedenkmarsch in Richtung Srebrenica von einem Komitee aus nichtstaatlichen und staatlichen Akteuren organisiert. Viele Teilnehmende bringt der Friedensmarsch auch heute an ihre körperlichen Grenzen. Etwa 150 Freiwillige des Roten Kreuzes leisten deshalb unterwegs medizinische Hilfe, private Initiativen und humanitäre Organisationen versorgen die Teilnehmenden mit Obst und Getränken. Für die zwei Übernachtungen auf dem Weg werden Zeltlager aufgebaut, unterwegs wird in "Geschichtsstunden" an die Ereignisse vor 30 Jahren erinnert.

Zeitzeugen und persönliche Erfahrungen

Die deutschsprachige Gruppe von Sejfuddin Dizdarević begleitet auch in diesem Jahr ein Überlebender des "Todesmarsches". Auf der Route liegt eine Reihe von Massengräbern, in denen ein Großteil der Fliehenden endete. Schon im Vorjahr schilderte der Überlebende Dizdarević' Gruppe am authentischen Ort, wie sein Bruder verwundet wurde und später starb. Das sei eindrücklicher als ein Vortrag in einem klimatisierten Raum, betont Dizdarević: "Man ist wirklich dort in der Hitze. Man ist sehr viel gelaufen, die Beine tun weh." Zwar müsse man heute keiner Angst haben erschossen zu werden, "aber das alles versetzt einen in einen Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit. Dann nimmt man das Gesagte viel intensiver wahr als wenn man es in einem anderen Setting hören würde."

Der Gedenkmarsch nach Srebrenica findet meist in großer Sommerhitze statt (Bild: 2023).Bildrechte: Sejfuddin Dizdarević

Das Genozid-Gedenken nahe Srebrenica

Am dritten Tag endet der Friedensmarsch bei der Gedenkstätte von Srebrenica, die sich im nahen Dorf Potočari befindet. Dort wo heute die Gedenkstätte steht, waren 1995 niederländische Blauhelmsoldaten stationiert. Den Genozid, der sich vor ihren Augen abspielte, haben die UN-Soldaten und die internationale Gemeinschaft nicht verhindert. So sei es auch kein Zufall, sagt Sejfuddin Dizdarević, dass sich für seine Gruppe in diesem Jahr auch eine junge Niederländerin angemeldet hat: "Ich habe sie gefragt, 'Warum willst du eigentlich mitlaufen?' Und sie sagte: 'Ich fühle mich schuldig dafür, was die holländischen UN-Soldaten damals im Juli 95 gemacht haben.'"

Die Rolle der niederländischen UN-Blauhelme in Srebrenica ist bis heute umstritten. 2013 urteilte ein Gericht in Den Haag im Fall von drei Zivilisten, die auf dem UN-Stützpunkt Schutz gesucht hatten, dass das niederländische Bataillon sie nicht hätte ausliefern dürfen. Damit wurde eine Mitverantwortung für deren Tod festgestellt.

In Potočari wurde auch der Friedhof für die Genozid-Opfer angelegt. Auf ihm werden jedes Jahr am 11. Juli die sterblichen Überreste der Menschen beerdigt, die immernoch in Massengräbern der Region gefunden werden und im jeweils zurückliegenden Jahr per DNA-Analsyse identifiziert wurden. Ihre Zahl nimmt Jahr für Jahr ab, 2025 finden sieben Beisetzungen statt.

Genozid-Leugnung erschwert Vermissten-Suche

Dennoch konnten auch 30 Jahre nach dem Genozid etwa 1.000 der aus Srebrenica Vermissten noch nicht gefunden und identifiziert werden, heißt es aus dem Institut für Verschwundene Bosnien und Herzegowina (INOBiH). Vor allem, weil die ursprünglichen Massengräber nachträglich von serbischen Einheiten geöffnet und die Leichname an mitunter weit entfernte Orte in eine Vielzahl neuer, "sekundärer" Massengräber verteilt wurden. Die Spuren des Massenmordes wurden so verwischt.

Teilnehmer des Gedenkmarsches 2024 auf dem Weg Richtung Srebrenica.Bildrechte: Sejfuddin Dizdarević

Erschwert wird die Suche nach den Überresten der Vermissten aber auch durch die Leugnung des Genozids an den Bosniaken. Daran beteiligt sich ein Teil der bosnisch-serbischen Bevölkerung und Institutionen, aber allen voran Politiker wie der Präsident des bosnischen Landesteils Republika Srpska, Milorad Dodik. Vielfach werden die begangenen Verbrechen sogar als Heldentaten gefeiert.

Bedeutung des Genozids für Deutschland

Aber nicht nur die Leugnung und Verharmlosung des Genozids in der Region ist ein Problem. Dizdarević ist beunruhigt, dass in Deutschland kaum wahrgenommen werde, wie Rechtsterroristen weltweit die Verbrechen serbischer Nationalisten gegen die Bosniaken glorifizieren. In den vergangenen 15 Jahren beriefen sich etwa die islamfeindlichen Attentäter Anders Breivik in Norwegen und Brenton Tarrant in Neuseeland auf den Genozid in Bosnien.

Der Auslandsbosnier Dizdarević denkt aber auch an einen Fall, den RTL-Reporterinnen vor wenigen Monaten bei ihren Recherchen zur rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich dokumentiert haben: Dort äußerte eine Deutsche aus dem Umfeld der AfD, sie wünsche sich ein "Srebrenica 2.0" für Deutschland, also einen Massenmord an den Muslimen in der Bundesrepublik.

Der norwegische Massenmörder Anders Breivik ist zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden (Archivbild).Bildrechte: picture alliance / NTB | Beate Oma Dahle

"Und deswegen ist wirklich wichtig zu verstehen, dass der Srebrenica-Genozid ein Höhepunkt von antimuslimischem Rassismus ist", sagt Dizdarević. Eine Lehre aus dem Völkermord müsse sein, schon den ersten Anzeichen einer gesellschaftlichen Verrohung wie entmenschlichender Sprache zum Beispiel gegenüber migrantischen Gruppen entgegenzutreten. Die wachsende Gunst der deutschen Wähler für die AfD beobachtet der Deutsch-Bosnier deshalb mit großer Sorge.

Zeichen der Hoffnung

In Bosnien wächst der Zulauf zum "Friedensmarsch". Die Organisatoren begrüßen es, dass immer mehr junge Menschen mitlaufen und als Freiwillige mit anpacken. 2021 sagte Zulfo Salihović aus dem Organisationskomitee, er betrachte es als seine Pflicht, seine Erfahrungen als Überlebender beim Gedenkmarsch an die jüngere Generation weiterzugeben: "Für mich ist es eine Art Traumaverarbeitung."

Auch der Sejfuddin Dizdarević bemerkt, dass das Interesse am "Friedensmarsch" wächst: In diesem Jahr laufen 40 Personen in seiner Gruppe mit, etwa doppelt so viele wie in den Vorjahren. In einer Zeit, in der rechte Ideologien erstarken, ist das Gedenken an Srebrenica auch ein politisches Statement: gegen das Vergessen und gegen das Verharmlosen.

MDR (usc, baz)

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