Nach 26 Jahren in Haft hat PKK-Chef Öcalan seine Anhänger per Video erneut aufgerufen, die Waffen niederzulegen. Dieser Prozess soll schon in wenigen Tagen beginnen. Wie sehr wird das die Türkei verändern?

Es sind ungewohnte Bilder, die die Türken in diesen Tagen erreichen. Erstmals seit 26 Jahren hat sich der Chef der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, mit einer Videobotschaft an seine Anhänger gewandt - aus seiner Haft auf der Gefängnisinsel İmralı nahe İstanbul im Marmarameer heraus. Dort sitzt der 76-Jährige seit 1999 eine lebenslange Haftstrafe wegen Hochverrats ab.

Öcalan bekräftigte erneut das Ziel einer Versöhnung zwischen Kurden und Türken, zwischen PKK und Staat, so wie er es bereits Anfang des Jahres getan hatte und zu der es in Kürze erste konkrete Schritte geben soll. Die ungewöhnliche Videobotschaft, die das Aufnahmedatum 19. Juni trägt, knüpft an Bilder aus dem Präsidentenpalast in Ankara vom Montag an.

Dort hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Delegation pro-kurdischer Parlamentsabgeordneter der DEM-Partei empfangen. Jahrelang war auch das kaum vorstellbar. Man sei mit Vorschlägen zu einer Phase des Friedensprozesses gekommen und auch der gegenseitige Wille dazu sei da, sagte ein Vertreter der DEM nach dem Treffen. Einen Tag zuvor hatte die kurdische Delegation Öcalan im Gefängnis besucht.

Eine Beratung beim Präsidenten signalisierte am Montag, dass in die Frage der Aussöhnung mit der PKK wieder Bewegung gekommen ist.

Jahrzehntelanger Krieg im Südosten des Landes

Öcalan hatte die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1978 gegründet. Seit 1984 kämpfte sie auch mit Waffengewalt für mehr Rechte der kurdischen Bevölkerungsgruppe und für mehr Autonomie. Im Südosten der Türkei tobte zeitweise ein brutaler Guerillakrieg zwischen der türkischen Armee und PKK-Kämpfern, bei dem geschätzt 40.000 Menschen auf beiden Seiten ums Leben kamen.

In Deutschland und anderen Staaten wurde die PKK als Terrororganisation verboten. Dennoch hat die Organisation im Ausland weiter viele Sympathisanten.

Eines der wenigen Bilder von Abdullah Öcalan - aufgenommen im Jahr 1999, als der PKK-Chef vor Gericht stand. Nun hoffen seine Anhänger auf eine Freilassung.

Jahr der Wende

Im Februar dieses Jahres dann die große Überraschung. Öcalan, für viele Kurden jahrzehntelang das Symbol und die Gallionsfigur, fordert die Bewegung auf, sich aufzulösen.

Vor dieser Ankündigung hatte Erdoğans Regierungspartner, der Chef der ultranationalen MHP-Partei, Devlet Bahçeli, Gespräche mit prokurdischen Vertretern geführt. Das war um so überraschender, als Bahçeli vorher immer wieder die Hinrichtung Öcalans gefordert und auch den ersten dann gescheiterten Friedensprozess von 2013 bis 2015 scharf kritisiert hatte.

Der militärische und gesellschaftliche Druck auf die PKK war zuletzt immer größer geworden. Die kurdischen Kämpfer hatten sich in die Berge des Nordirak zurückgezogen und waren immer wieder türkischen Luftangriffen ausgesetzt.

Die PKK folgte am 12. Mai dieses Jahres der Aufforderung Öcalans. Sie gab die Auflösung bekannt und erklärte ihren jahrzehntelangen bewaffneten Kampf für die Rechte der Kurden für beendet.

Erdoğans Ziele

Der Kurswechsel des Präsidenten dürfte innen- und geopolitisch motiviert sein. Innenpolitisch dürfte der seit über 20 Jahren zunehmend autoritär regierende Erdoğans eine weitere Amtszeit als Staatsoberhaupt anstreben. Die Verfassung sieht das eigentlich nicht vor. Um dieses Ziel legal zu erreichen, braucht er die Unterstützung der kurdischen Abgeordneten der DEM.

Auch bei dem zunehmenden brutaleren Vorgehen gegen die größte türkische Oppositionspartei CHP ist Erdoğan auf jede Unterstützung angewiesen. Falls die DEM hier die Füße still hält, könnte es dem Präsidenten gelingen, die Opposition zu schwächen.

Zugleich wolle Erdoğan damit auch eine strategische Neuausrichtung der Türkei in einer Region schaffen, in der sich die Machtverhältnisse verschieben und Allianzen wandeln, analysiert die Türkei-Expertin Gülistan Gürbey von der FU Berlin. Denn die Kurden in der Region seien in dem geopolitisch dynamischen Umfeld unverzichtbare Akteure.

Eine Frage bleibt aber bisher ungelöst: die Rolle der syrischen Kurden im Norden des Nachbarlandes. Die Erdoğan-Regierung will dort ihren Einfluss ausbauen und betrachtet die kurdische YPG-Miliz als Ableger der PKK. Immer wieder geht sie mit Luftangriffen und Bodenoperationenen gegen die YPG vor.

Die PKK hingegen betrachtet die kurdischen Einheiten dort als ihr ideologisches und strategisches Projekt. Eine Lösung hier durfte nur schwer und nur durch weitreichende Zugeständnisse von beiden Seiten zu erreichen sein.

Die Erwartung: konkrete Schritte

Die kurdische Politik erwartet nun von der türkischen Regierung konkrete Schritte, um einen Aussöhnungsprozess zu unterstützen: vor allem die Freilassung von politischen Gefangenen, die Aufhebung der Zwangsverwaltungen im kurdisch dominierten Südosten des Landes, die Förderung der kurdischen Sprache und eine faire Umsetzung des geplanten Entwaffnungsprozesses der PKK.

Öcalan selbst hat sich in einem Schreiben gegen eine Autonomielösung und für eine demokratische Türkei mit Gleichberechtigung der Kurden ausgesprochen. Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser Forderungen dürfte die kurdische DEM-Partei spielen, die bei den letzten Wahlen in zehn Provinzen und 65 Landkreisen die Mehrheit gewonnen hatte und viele Bürgermeister stellt.

Der politische Druck auf sie ist aber groß - in vielen Provinzen wurden in den vergangenen Wochen oppositionelle Politiker abgesetzt und inhaftiert, oft mit unbewiesenen Anschuldigungen.

Kommt Öcalan frei?

Viele kurdischen Politiker hoffen auch auf eine Freilassung Öcalans. Denn er kann ihrer Ansicht nach mit seinem Ansehen und seiner Autorität den Kurs der Integration und Gleichberechtigung am besten umsetzen. Ob die türkische Führung aber eine aktive Rolle des ehemaligen Staatsfeindes zulässt, ist zweifelhaft.

Öcalan kündigte in seiner heutigen Videobotschaft an, dass die Entwaffnung der PKK rasch umgesetzt werde. Offenbar wollen die PKK-Kämpfer im kurdischen dominierten Teil des Irak Ende der Woche in einem zeremoniellen Akt einen ersten Teil ihrer Waffen zerstören. Wie es dann weitergehen soll, ist zurzeit unklar - auch ob es eine internationale Kontrolle geben wird. Der Entwaffnungsprozess könnte mehrere Monate dauern.

Eine andere Türkei?

Die Selbstauflösung der PKK nach 40 Jahren bewaffneten Kampfes könnte Chancen, aber auch Risiken bringen. Die türkische Politik könnte sich mit der Entstigmatisierung der DEM verändern, auch wenn die Gefahr besteht, dass Erdoğan versucht, damit die Opposition zu spalten.

Und auch das weitere Schicksal der PKK-Mitglieder ist unklar, sowohl der Kämpfer in den Bergen als auch der Aktivisten in den Städten. Ob eine Generalamnestie denkbar ist, wird kontrovers diskutiert.

Während über mögliche Integrationsprogramme diskutiert wird, gilt eine pauschale Begnadigung durch Erdoğan als unwahrscheinlich. Zu groß wäre das Risiko gesellschaftlicher Spannungen. Nach wie vor gibt es gegenseitig ein großes Misstrauen. Die Narben, die der jahrelange Kampf auf beiden Seiten hinterlassen hat, sie schmerzen noch immer.

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