Im Winter beschädigte eine russische Drohne die Schutzhülle am stillgelegten AKW Tschernobyl. Experten haben nun ein Konzept erarbeitet, wie das hochkomplexe System zumindest teilweise wiederhergestellt werden kann.

Im Februar schockte eine Nachricht aus der Ukraine ganz Europa: Eine russische Kamikazedrohne iranischer Bauart war in Tschernobyl explodiert. Genauer gesagt: unmittelbar am Reaktorblock 4 des stillgelegten Kernkraftwerks.

Erinnerungen wurden wach an das Jahr 1986, als sich in jenem Reaktor der bisher gravierendste Atomunfall der Menschheitsgeschichte ereignete. Die Drohne hatte die Schutzhülle durchbrochen, die den Reaktor seit 2019 schützt und es unmöglich machen soll, dass Radioaktivität austritt. 

Schnell geriet diese Nachricht wieder in Vergessenheit, denn die Expertinnen und Experten konnten keine erhöhte Radioaktivität am Unglücksreaktor messen. Und doch hat der Drohneneinschlag gravierende Folgen.

Die Fachleute vor Ort gehen inzwischen davon aus, dass die Schutzhülle, deren Bau über zwei Milliarden Euro kostete, wohl nie mehr so funktionieren wird wie einst geplant. Eine vollständige Reparatur wäre zwar wahrscheinlich möglich, sagte Artem Siryj, Betriebsleiter an der Schutzhülle, gegenüber tagesschau.de. Doch die finanziellen Mittel dafür dürften kaum aufzubringen sein.

Karte der Ukraine und Russlands, hell schraffiert: von Russland besetzte Gebiete

Drohne durchschlug äußere Stahlwand

Um das zu verstehen, erklärt Artem Siryj, was im Februar genau passierte. Die Drohne habe die äußere Stahlwand der Schutzhülle durchschlagen, die im Fachjargon als "New Safe Confinement" bezeichnet wird.

Etwa neun Meter unterhalb befindet sich eine innere Wand - Teile der Drohne durchschlugen auch sie. Vor allem der Raum zwischen den beiden Wänden spielte aber eine entscheidende Rolle für das Sicherheitskonzept.

Die Luft dort wurde verdichtet, es herrschte Überdruck. So wurde sichergestellt, dass hochradioaktive Partikel nicht bis an die Außenwand der Schutzhülle dringen und diese kontaminieren konnten. 

Dieser Überdruck könne bis auf weiteres nicht mehr hergestellt werden, so Siryj. Denn heiße Elemente der Drohne setzten eine Kunststoffmembran in Brand, die sich an der Außenwand befand - zwischen Schichten anderer Materialien. "Diese Membran war das einzige brennbare Element, sie begann zu schwelen", sagt Siryj.

Der Schwelbrand breitete sich aus, trotz der damals frostigen Temperaturen. Ihn durch das Loch zu löschen, das die Drohne gerissen hatte, erwies sich als unmöglich. 

Löcher geschnitten, Wasser verteilt

Die Folge: Spezialisten des ukrainischen Katastrophenschutzes ermittelten mit kleinen Beobachtungsdrohnen, ausgestattet mit Wärmebildkameras, die Brandherde.

Industriekletterer schnitten an den jeweiligen Stellen weitere Löcher in die Stahlwand - von einer Größe von etwa 30 mal 30 Zentimetern. Erst das Wasser, das über diese Löcher verteilt wurde und zur Kunststoffmembran durchsickerte, löschte letztlich den Schwelbrand.

Experte: Weitgehender Schutz für Außenwelt

Inzwischen hätten ukrainische und internationale Spezialisten ein Konzept erarbeitet, wie die Löcher verschlossen und zumindest die Innenwand wieder hermetisch abgedichtet werden kann, so Siryj. Das werde einen weitgehenden Schutz der Außenwelt bieten.

Er hofft, dass die entsprechenden Arbeiten noch in diesem Jahr beginnen können. Die aktuelle Schutzhülle wurde von einem Fonds, in den Geberländer einzahlten, und von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) finanziert. Von dort hoffen die Verantwortlichen in der Ukraine auf weitere Unterstützung. 

 

Ursprüngliche Funktion nicht mehr vollumfänglich möglich

Um den Überdruck zwischen Außen- und Innenwand wieder herzustellen, müsste aber unter anderem die Membran erneuert werden, so Betriebsleiter Siryj.

Das sei an Ort und Stelle, in unmittelbarer Nähe des Unglücksreaktors, kaum möglich. Und die 110 Meter hohe und über 160 Meter lange Schutzhülle wieder zu verschieben, wäre extrem aufwändig.  

Damit wird die Schutzhülle ihre ursprünglich angedachte Funktion nicht mehr voll erfüllen können. Sie sollte die Umgebung nämlich so gut vor der Strahlung aus dem Reaktorblock 4 schützen, dass eine alte Schutzhülle, die sich direkt am Reaktor befindet, teilweise demontiert werden kann.

Diesen sogenannten Sarkophag hatten ukrainische Arbeiterinnen und Arbeiter 1986 im Eiltempo gebaut, viele von ihnen erkrankten durch hohe Strahlenbelastung unheilbar. Inzwischen ist der alte Sarkophag zunehmend baufällig. Teile könnten einstürzen und unkontrolliert eine hochradioaktive Staubwolke freisetzen.  

Eine einzelne russische Kampfdrohne hat damit eine Milliarden-Investition, die Europa sicherer machen sollte, teilweise zunichte gemacht. Die Schutzhülle sei gegen sämtliche möglichen Umwelteinflüsse abgesichert gewesen, so Betriebsleiter Siryj, "aber mit einer Kampfdrohne hat bei der Konstruktion einfach niemand gerechnet".   

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