Wellenartige Angriffe Russlands mit Hunderten Drohnen: Der ukrainische Militäranalyst Mykola Beleskow sieht darin eine gezielte Strategie der Zerstörung und Zermürbung. Er befürchtet: Ohne Militärhilfe werden wieder mehr Menschen fliehen.
tagesschau.de: Russland hat die Ukraine im Juni mit Tausenden Drohnen und Hunderten Raketen angegriffen. Anfang Juli wurden allein in einer Nacht mehr als 500 Drohnen abgefeuert. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen?
Mykola Beleskow: Das ist Teil der Gesamtstrategie Russlands. Einer Strategie der Zermürbung. Die Idee ist, den Menschen den Schlaf zu rauben, Druck auf ihre Psyche auszuüben und gleichzeitig die Infrastruktur zu zerstören.
Das Angriffsmuster war eigentlich wie immer: Sie beginnen zuerst mit Wellen an Drohnen, die aus verschiedenen Richtungen kommen und sich um Kiew herum in Schwärmen ansammeln und dann gleichzeitig angreifen.
Außerdem greifen sie gleichzeitig auch mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern an. Dieses Muster beobachten wir seit Mai, Anfang Juni. Sie zielen auf zivile Infrastruktur, militärische Einrichtungen und die Rüstungsindustrie.

"Alle Kompromissvorschläge wurden abgelehnt"
tagesschau.de: Der jüngste Großangriff auf die Hauptstadt begann etwa eine Stunde nach einem Telefonat zwischen US-Präsident Trump und Kremlchef Putin. Fehlt Russland der Respekt vor den USA?
Beleskow: Absolut. Alle Vorschläge für eine Kompromisslösung wurden abgelehnt. Gleichzeitig beobachten wir kombinierte Angriffe mit inzwischen 5.000 Drohnen monatlich und die Fortsetzung des russischen Vorstoßes im Osten der Ukraine.
Die russische Position ist ziemlich klar und konsequent: Sie sehen keine Risiken darin, die Vorschläge Donald Trumps abzulehnen. Sie glauben nicht, dass diese Regierung in der Lage ist, eine systematische Politik der Hilfe für die Ukraine und des Drucks auf Russland zu machen, die zu einem Umdenken in Wladimir Putins Kopf führen würde.
"Absoluter Zynismus"
tagesschau.de: Wie beurteilen Sie den Schritt der US-Administration, bereits zugesagte Militärhilfen einzustellen?
Beleskow: Das ist absoluter Zynismus. Und das passiert mitten in einem existenziellen Krieg, den die Ukraine führt. Allen ist klar: Wenn Russland in der Ukraine nicht aufgehalten wird, dann werden die nächsten Ziele NATO-Länder sein, in erster Linie die baltischen Staaten. Das werden dann sehr viel größere Probleme für die USA sein.
Der Ukraine hier und jetzt nicht zu helfen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt von humanitären Motiven, also bei der Abwehr von Raketen, bedeutet, die euro-atlantische Sicherheit im Allgemeinen zu untergraben.
tagesschau.de: Was heißt das konkret?
Beleskow: Man schafft damit einen globalen Präzedenzfall. Der hypothetische Sieg Russlands wird nicht nur ein Sieg für Russland sein. Sondern ein Sieg der Koalition, die Russland unterstützt - also auch ein Sieg Chinas. Aus vielen Gründen ist es also ein Kopfschuss für die USA und ihre globale Strategie. Diese Hilfe, die längst bezahlt und vorfinanziert ist, nicht zu leisten, ist falsch und sogar böse.
"Russland erhöht die Raketenproduktion"
tagesschau.de: Wie werden sich ausbleibende Lieferungen von US-Flugabwehrraketen auf den Kriegsverlauf auswirken?
Beleskow: Uns liegen Zahlen vor, wonach Russland die Produktion ballistischer Kurzstreckenraketen vom Typ Iskander mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern erhöht und zusätzliche Raketen von Nordkorea kauft. Bis zu 700 solcher Raketen kann Russland pro Jahr selbst herstellen und Hunderte weitere Raketen kommen aus Nordkorea.
Leider ist nur das amerikanische Flugabwehrraketen-Modell PAC-3-MSE des Patriot-Systems in der Lage, ballistische Raketen zuverlässig abzuwehren. Die PAC-2-Raketen, die auch von Deutschland geliefert werden, und wofür wir in der Ukraine dankbar sind, bieten einen solchen Schutz leider nicht.
"Städte wie Kiew werden schutzloser"
tagesschau.de: Russland kann also weiter eskalieren und die Unsicherheit in der Ukraine wächst.
Beleskow: Die Folge ist, dass Städte wie Kiew schutzloser werden. Kiew macht irgendwo zwischen 20 und 25 Prozent der gesamten ukrainischen Wirtschaftsleistung aus. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn Russland Kiew systematisch mit ballistischen Raketen terrorisieren könnte. Das wird sich auf die Psyche der Menschen auswirken, die Arbeitsproduktivität wird sinken.
Viele werden darüber nachdenken, innerhalb der Ukraine umzuziehen oder sogar das Land zu verlassen. Der Ukraine die Möglichkeit zu nehmen, sich gegen ballistische Raketen aus Russland oder Nordkorea zu verteidigen, ist ein schwerer Schlag für die Fähigkeit der Ukraine, insgesamt systemischen Widerstand zu leisten.
tagesschau.de: Was kann der Ukraine in der aktuellen Lage helfen?
Beleskow: Wenn wir über das Hier und Jetzt sprechen, dann geht es entweder um die Wiederaufnahme der US-Lieferungen oder um den Kauf von Flugabwehr durch die Europäer im Interesse der Ukraine. Es gibt leider keine anderen Optionen.
"Faktisch eine Unterstützung der Russischen Föderation"
tagesschau.de: Wie sehen Sie die Ukraine-Politik Trumps?
Beleskow: Entsprechende Waffen nicht zu liefern - und zwar nicht nur bezogen auf Patriot - ist faktisch eine Unterstützung der Russischen Föderation. Das widerspricht Trumps Aussage, dass er Frieden will. Wenn Sie hier und jetzt einen schnellen Frieden haben wollen, müssen Sie die andere Partei von der Ernsthaftigkeit Ihrer Absichten überzeugen.
Wenn Sie drohen, aber nichts machen, dann ist klar, dass sich an Russlands Kalkül nichts ändern wird. Das Problem ist also die Person, die gerade im Weißen Haus sitzt und die US-Außenpolitik verantwortet. Trump muss sich selbst überwinden, um der Ukraine systematisch zu helfen.
Das Gespräch führte Vassili Golod, ARD Kiew
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke