In Armenien tobt ein Machtkampf zwischen Regierung und den alten Eliten: einflussreichen Geschäftsleuten, Kirchenmännern und Politikern. Dabei geht es um mehr als Macht: Es geht auch um die Identität des Landes.
Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein entwürdigender Zank zwischen Regierung und Kirche, was sich derzeit in Armenien zuträgt. Premierminister Nikol Paschinjan und die Führung der Armenischen Apostolischen Kirche greifen sich seit Wochen persönlich bis unter die Gürtellinie an.
Mit dem Vorwurf eines geplanten Staatsstreichs nahmen Sicherheitskräfte schließlich mehr als ein Dutzend Männer fest, darunter den Erzbischof Bagrat Galstanjan und einen mächtigen armenisch-russischen Geschäftsmann.
Machtkampf mit der alten Elite
Es ist das jüngste Kapitel in einem Kampf mit der alten Elite, die das Land mehr als 20 Jahre beherrscht hat und 2018 vom Volk zum Rückzug gezwungen wurde. Auf der anderen Seite steht Regierungschef Paschinjan mit seiner Partei "Zivilvertrag", der 2018 den friedlichen Aufstand angeführt hatte.
Damals lehnten sich die Menschen gegen die Partei der Republikaner auf. Sie beherrschte den Machtapparat, die Medien und die Wirtschaft, und sie hatte die Kirche auf ihrer Seite. Gemeinsam hätten sie sich am Volk bereichert, so der Vorwurf, zum Beispiel durch überhöhte Preise für Mehl. Während die Partei immer selbstbewusster gegenüber dem verfeindeten Nachbarn Aserbaidschan auftrat, versäumte sie die Modernisierung der eigenen Streitkräfte, die noch dazu durch Korruption geschwächt waren. Dies trug als einer von vielen Faktoren dazu bei, dass die Armenier das Konfliktgebiet Bergkarabach 2023 schließlich ganz verloren.
Nationalistische Träume
Auch Paschinjans politische Fehler in den Jahren davor trugen zum Verlust Bergkarabachs bei. Dennoch stimmte 2021 eine Mehrheit der Wähler wieder für seine Partei. Die alte, noch immer mächtige Elite konnte die Bevölkerung damals nicht von sich überzeugen. Vor der Parlamentswahl 2026 spitzt sich der Machtkampf nun zu. Dabei geht es um Grundsätzliches, das an die Identität der drei Millionen Menschen in Armenien und der etwa sechs Millionen Diaspora-Armenier in aller Welt rührt. Deren größte Gemeinden bestehen in den USA, Frankreich und Russland.
Paschinjan propagiert das "wirkliche Armenien", das sich an den Realitäten und Bedürfnissen der Menschen im Land ausrichten soll. Nicht mehr der majestätische Gipfel des Ararat auf dem heutigen Gebiet der Türkei soll das Symbol des Landes sein, sondern der unspektakuläre Berg Aragats in Armenien. Bedeutender aber: Um Armenien vor einer Invasion durch Aserbaidschan zu bewahren, will Paschinjan jeden Anspruch auf Bergkarabach aufgeben. Auch andere Phantasien von der Rückholung einstmals armenischer Gebiete in der heutigen Türkei will er beenden.

Weitgehende Zugeständnisse
Paschinjan sucht einen pragmatischen Weg mit den beiden Nachbarn. Bei seiner Annäherung an den westlichen Nachbarn Türkei steht die Öffnung der gemeinsamen Grenze zum wirtschaftlichen Vorteil beider im Vordergrund. Die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern im Osmanischen Reich stellt Paschinjan anders als seine Vorgänger nicht mehr als Vorbedingung.
Für das inzwischen unterschriftsreife Friedensabkommen mit dem östlichen Nachbarn Aserbaidschan machte seine Regierung weitgehende Zugeständnisse, ebenso bei den Verhandlungen über den armenisch-aserbaidschanischen Grenzverlauf: Armenien gab fünf aserbaidschanische Siedlungsgebiete innerhalb eines nördlichen Grenzabschnitts zurück. Dieser Teil ist nun mit einem Zaun markiert und wird auf beiden Seiten von Grenztruppen statt Streitkräften bewacht. Anders als von den Anwohnern befürchtet, ist es seitdem dort ruhig, während in südlichen Grenzabschnitten immer wieder der Waffenstillstand gebrochen wird.
Die relative Stabilität sowie die Verbesserung der Investitionsbedingungen und der Infrastruktur haben durchaus positive Folgen für Armenien. Gerade gab der US-Chipkonzern NVIDIA eine Kooperation mit der armenischen Regierung und dem KI-Cloud-Unternehmen Firebird bekannt, um ein KI-Supercomputing-Zentrum zu errichten. Ziel ist es, Armenien zum regionalen Marktführer für KI zu machen.
"Ausverkauf Armeniens"
Doch Paschinjan stößt mit seiner Politik an Grenzen. Denn Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew vermittelt den Eindruck, dass er seine starke Position für immer weitere Zugeständnisse Armeniens ausnutzen will. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als dessen enger Verbündeter lässt Paschinjan ebenfalls mit konkreten Schritten der Annäherung warten.
So fällt es Paschinjans Gegnern im eigenen Land leicht, ihm einen Ausverkauf Armeniens vorzuwerfen und ihn als "Agenten" der verfeindeten Nachbarn darzustellen. Geteilt wird diese Ansicht in den konservativ und nationalistisch geprägten Diaspora-Gemeinden, die erheblichen Einfluss in Armenien ausüben. Deren Selbstverständnis ist tendenziell stärker an der leidvollen Geschichte von Mord und Vertreibung orientiert als jenes der Menschen im Heimatland, für die das tägliche Auskommen und das Überleben in einer fragilen Sicherheitslage im Vordergrund steht.
Weiter befeuert werden die Spannungen von der russischen Regierung und deren einflussreichen Propagandisten. Denn die Lösung des jahrzehntealten Konflikts mit den Nachbarn könnte Russlands Einfluss in Armenien erheblich einschränken.
Paschinjan als Politiker verbraucht
In der aufgeheizten und personalisierten Debatte in Armenien kommt die Frage zu kurz, wie die Menschen im Land nicht nur überleben, sondern auch ihre Zukunft gestalten. Armenische Experten halten den Ansatz Paschinjans für richtig, das Selbstverständnis an den Realitäten zu orientieren und sich auf Stärken zu besinnen.
Doch hätte Paschinjan das Konzept vom "wirklichen Armenien" nach Meinung der Experten nicht an seine Person binden sollen. Auch viele aus der progressiven Zivilgesellschaft halten Paschinjan als Politiker für verbraucht. Sie wünschen sich jemand anderen an seiner Stelle, allerdings konnte sich noch niemand als potentieller Nachfolger profilieren.
Zudem häufen sich Korruptionsvorwürfe gegen Paschinjans Umfeld, auf die er teils ausfällig reagiert. Eine Vortragstour seiner Frau Anna Hakobjan etwa warf die Frage auf, ob diese teils durch Regierungsgelder finanziert wurde - und er die Tour wiederum für seinen Wahlkampf missbrauchte.
Grundlegendes Misstrauen in die Politik
Der alten Elite gelingt es jedoch nicht, sich mit ihrem Ruf nach Absetzung Paschinjans als Opposition zu vereinigen und Unterstützung in der Bevölkerung zu finden. Ihr Streit um einen Alternativkandidaten zeigt zu deutlich, dass es ihr vor allem um die Macht und nicht um die Menschen geht. Entsprechend zeigen Umfragen großes Misstrauen gegen alle Politiker. Nicht viel besser steht es um die Kirchenführung.
Zu befürchten ist unter den aktuellen Umständen ein Szenario, wie es kürzlich bei der Lokalwahl in der Stadt Gjumri zu beobachten war: Zwar erhielt Paschinjans Partei die meisten Stimmen. Doch das Ergebnis war schwach. Kleinere Parteien taten sich zusammen, um einen Mann zum Bürgermeister zu wählen, der sich als pro-russischer und kommunistischer Kirchenanhänger ausgibt. Er gilt als kriminell und wird mit einem Mord in Zusammenhang gebracht.
Mit Sorge wurden russische Medienberichte aufgenommen, wonach Sergej Kirijenko, der Politstratege von Kremlchef Wladimir Putin, das Portfolio Armenien übernommen haben soll - um dort "Russlands Interessen" vor der Parlamentswahl 2026 voran zu bringen.
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