Inhalt des Artikels:
- Verfassungsrechtliche Bedenken
- Rund 20 Millionen Ukrainer leben im Ausland
- Schnellere Einbürgerung für ausländische Kämpfer
- Und die Russen?
Noch während des Präsidentschaftswahlkampfes 2019 hat Wolodymyr Selenskyj versprochen, die vorher im ukrainischen Recht nicht vorgesehene doppelte Staatsbürgerschaft zu erlauben. Schon damals war die Idee dahinter, die große ukrainische Diaspora im Ausland dadurch zumindest teilweise an die Ukraine zu binden.
Ende 2021 hat der Präsident zum ersten Mal einen entsprechenden Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht. Die Auslandsukrainer und -ukrainerinnen sollten sich laut dem Präsidenten nicht nur als "Menschen ukrainischer Herkunft" fühlen, sondern ukrainische Staatsbürger sein. Zuvor mussten sie in der Regel ihren Pass abgeben, um eine andere Staatsbürgerschaft zu erlangen.
Verfassungsrechtliche Bedenken
Vor vier Jahren scheiterte das Gesetzesvorhaben vor allem daran, dass unklar war, ob es gegen die ukrainische Verfassung verstößt. Die meisten ukrainischen Verfassungsexperten gingen zwar davon aus, dass dies nicht der Fall war. Doch das überzeugte die Abgeordneten in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament, damals offenbar nicht. Und so gab es keine Mehrheit für das Gesetz, und das, obwohl es sich um einen Entwurf des Präsidenten handelte und Selenskyjs Partei im Parlament schon damals die absolute Mehrheit besaß.

Seit dem russischen Großüberfall vom 24. Februar 2022 hat sich die Ausgangslage für ein solches Gesetz noch einmal gründlich verändert. Allein in der EU haben aktuell mehr als 4,3 Millionen Ukrainer temporären Schutz gefunden. Dass ein großer Teil von ihnen auch nach dem Krieg nicht in die Ukraine zurückkehren und mit der Zeit den Anspruch auf eine andere Staatsbürgerschaft haben wird, ist sehr wahrscheinlich.
Rund 20 Millionen Ukrainer leben im Ausland
Sechs Jahre nach dem Amtsantritt Selenskyjs war es nun endlich soweit: Mitte Juni hat das Parlament in Kiew das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft in der zweiten und finalen Lesung verabschiedet. Tatsächlich war dieses auch abgesehen vom russisch-ukrainischen Krieg schon länger an der Zeit. Nach Angaben des Ministeriums für nationale Einheit in Kiew leben aktuell zwischen 31 und 32 Millionen Menschen auf dem von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebiet. Außerhalb der Ukraine dürften jedoch mehr als 20 Millionen ukrainischstämmige Menschen wohnen. Dazu gehören nicht nur Flüchtlinge, sondern die sogenannte "alte Diaspora", die überwiegend aus Nachfahren ukrainischer Auswanderer besteht, sowie die großen Migrationsgruppen der 1990er und 2000er Jahren in der chaotischen Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Im Kern geht es aber tatsächlich vor allem um Flüchtlinge. Die EU-Länder, die ähnlich wie die Ukraine mit eigenen demographischen Problemen kämpfen, sind an der Integration von qualifizierten Ukrainern interessiert. Viele davon befinden sich seit Anfang 2022 in der EU und hätten in einigen Jahren Anspruch auf die Staatsbürgerschaft ihres Gastlandes, müssten dafür aber den ukrainischen Pass abgeben. Um diese Millionen von Ukrainern und vor allem ihre Kinder, die oft schlicht durch Geburt automatisch eine andere Staatsbürgerschaft erwerben können, nicht komplett zu verlieren, war das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft nötig.
Schnellere Einbürgerung für ausländische Kämpfer
Allerdings beschränkt sich dieses nicht nur auf die Ukrainer selbst. So seht das Gesetz etwa vor, dass Staatsbürger der sogenannten "befreundeten Staaten", die der ukrainischen Armee beigetreten sind, bereits nach einem Jahr Aufenthalt in der Ukraine die Einbürgerung beantragen können. Ohne Armeedienst ist das erst nach fünf Jahren möglich. Die Liste dieser Staaten wird die Regierung konkretisieren, doch es ist davon auszugehen, dass alle EU-Länder darauf zu finden sein werden – auch Ungarn, das massiv Pässe an die ungarische Minderheit in Transkarpatien verteilt hat. Meist verheimlichten die ungarischen Neubürger ihren zweiten Pass vor den ukrainischen Behörden. Das war – außer für Beamte – zwar keine Straftat, aber im Gesetz eben auch nicht vorgesehen. Insgesamt sorgte Budapest mit dieser Aktion für reichlich Irritationen in Kiew.
Über die EU hinaus soll die Verhängung der Sanktionen gegen Russland das Hauptkriterium für einen "befreundeten Staat" sein. Die vereinfachte Prozedur bedeutet zudem nicht, dass keine Prüfung in der ukrainischen Sprache oder etwa der ukrainischen Geschichte für den Erhalt des Passes mehr notwendig ist. Wenn das Ursprungsland des Bewerbers jedoch nicht auf der Liste steht, muss dieser die vorherige Staatsbürgerschaft abgeben.

Die Neuregelung der Staatsbürgerschaft hat in der Ukraine viel Zuspruch erhalten. Der Respekt vor den Ausländern, die in der ukrainischen Armee kämpfen, ist in der Gesellschaft groß. Dass diese jedoch Schlange für den ukrainischen Pass stehen werden, ist eher unwahrscheinlich. Zusammen mit der Staatsbürgerschaft bekommt der Bewerber nämlich nicht nur Rechte wie zum Beispiel das Wahlrecht, sondern auch Pflichten. Weil die Ukraine ihre Staatsbürger auch im Falle von zwei Pässen als Ukrainer betrachten wird, kommt die Wehrpflicht hinzu. Für Männer zwischen 18 und 60 Jahren bedeutet dies während des Kriegsrechts ein Ausreiseverbot. Dies ist auch der Grund, warum viele ukrainischstämmige Männer aus der alten Diaspora den Pass bis zum Kriegsende nicht beantragen werden. Denn dafür müssten sie physisch in die Ukraine kommen, um entsprechende Dokumente einzureichen und Prüfungen abzulegen – und könnten dann das Land nicht mehr verlassen und zum Wehrdienst herangezogen werden.
Und die Russen?
Kompliziert ist die Situation mit russischen Staatsbürgern, die es trotz des Krieges weiterhin in der Ukraine gibt und die teilweise auch in der ukrainischen Armee kämpfen. Sie müssen ihre russische Staatsbürgerschaft abgeben, wozu eine Reise nach Russland nötig ist, was für die allermeisten aus Sicherheitsgründen nicht in Frage kommt. Gelöst werden soll dieses Problem durch das sogenannte Recht auf "deklarative Ablehnung". Die Russen sollen sich daher an die ukrainischen Behörden wenden und die Abgabe des russischen Passes deklarieren. Ob dies in der Praxis reibungslos funktionieren wird, ist allerdings unklar. Die Bewohner der von Russland zum Teil oder ganz besetzten ukrainischen Bezirke betrifft das jedenfalls nicht. Ihre Einbürgerung nach Russland wird von der Ukraine als unfreiwillig bewertet und sie werden von Kiew ausschließlich als Ukrainer betrachtet.
Die Ukraine begegnet mit diesem Gesetz vor allem dem massiven Bevölkerungsschwund, die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöst wurde. All jene, die in die EU geflohen sind, und dort bald einen Anspruch auf Einbürgerung erwerben, sollen weiterhin ukrainische Staatsbürger bleiben können. Ob es jedoch wirklich gelingt, diese Menschen nicht nur formell an das Land zu binden, bleibt offen – und wird mit jedem weiteren Monat, den die russische Aggression andauert, unwahrscheinlicher.
MDR (tvm)
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