Russland hat die Ukraine in der vergangenen Nacht mit mehr als 200 Drohnen und Raketen angegriffen. Betroffen war vor allem die Stadt Charkiw im Osten des Landes. Wie SRF-Korrespondent David Nauer diese Angriffe einschätzt – und was er nach seinem Besuch an der Ostfront im Donbass berichtet.

SRF News: Es wird spekuliert, dass es sich beim Angriff von letzter Nacht um die Antwort Moskaus auf die Angriffe auf die russische Luftwaffe handelt. Was halten Sie davon?

David Nauer: Ich halte die These, dass Russland mit diesen jüngsten Angriffen «Vergeltung» übt, für falsch. Denn die Russen greifen ohnehin seit Kriegsbeginn systematisch zivile Ziele an. Seit mehreren Wochen machen sie das verstärkt, weil sie die Raketen- und Drohnenproduktion massiv hochgefahren haben. Sie schiessen mehr, weil sie mehr Munition haben.

Wer von Vergeltung spricht, geht zudem der Kreml-Propaganda auf den Leim. Weil man so quasi impliziert, die russischen Attacken seien legitim. Zumal man auch sagen muss: Die Ukrainer haben mit ihren Drohnen hochrangige militärische Ziele angegriffen – und nicht Wohnhäuser.

Legende: Die Ukraine soll mit Terror demoralisiert werden: Ukrainische Rettungskräfte und Sanitäter bergen eine Verletzte Person aus einem Gebäude in Charkiw. (7.6.2025) REUTERS/Sofiia Gatilova

Sie haben kürzlich die Gebiete an der Ostfront besucht. Wie ist die Lage dort?

Schwierig. Die Russen rücken an mehreren Stellen vor. Zwei ostukrainische Städte, die ich noch vor ein paar Monaten besucht habe, sind inzwischen so stark unter Beschuss, dass man nur noch unter höchster Lebensgefahr dorthin kann. Die Ukrainer stehen unter Druck. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie die Donbass-Region früher oder später ganz verlieren. Die Armeeführung lässt schon massive Verteidigungsanlagen hinter den grossen Städten bauen – als Vorsorge, falls der ukrainische Donbass fällt.

Wie schildern die Frontsoldaten die Lage?

Es war erschütternd, ihre Gesichter zu sehen. Vor allem jene der Infanteristen, die ganz vorne an der Front kämpfen. Man sieht ihnen an, dass sie durch die Hölle gehen, dass sie damit leben, jeden Moment getötet werden zu können.

Es ist eine Mischung aus einem hochtechnologischen und einem sehr archaischen Krieg.

Erzählt haben sie, dass die Russen an manchen Frontabschnitten pausenlos angreifen. Russische Soldaten versuchen in kleinen Stosstrupps vorzurücken, meistens werden diese von kleinen ukrainischen Drohnen getötet, bevor sie bei den ukrainischen Positionen sind. Aber manchmal kommt doch ein Russe durch, und dann gibt es einen Kampf Mann gegen Mann aus nächster Nähe. Natürlich setzen die Russen auch Drohnen ein und die ukrainischen Verteidiger müssen sich gut verstecken. Es ist also eine Mischung aus einem hochtechnologischen und einem sehr archaischen Krieg.

Legende: Ukrainische Soldaten feuern eine Haubitze auf russische Truppen an einer Frontlinie in der Region Charkiw ab. (2.6.2025) Handout ukrainische Streitkräfte/ Anatolii Lysianskyi via Reuters

Seit Trumps Amtsantritt sind Verhandlungen für einen Waffenstillstand Dauerthema. Wirkt sich das auf die Moral der Soldaten aus?

Diese Gespräche interessieren an der Front niemanden. Ich habe mich am Montag mit Soldaten getroffen. Sie wussten nicht einmal, dass an diesem Tag in Istanbul Gespräche zwischen Russland und der Ukraine stattfanden.

Die Soldaten glauben, dass der Kreml nur zum Schein verhandelt.

Die Soldaten sagen, dass sie ohnehin nicht an einen Erfolg von Verhandlungen glauben. Sie glauben, dass der Kreml nur zum Schein verhandelt. Das ist naheliegend, wenn man sieht, mit was für einer Wucht die Russen angreifen. Einer der Frontkämpfer hat es mir so gesagt: ‹Sollen sie doch verhandeln, es bringt eh nichts. Ich mache hier meine Arbeit. Und die ist, den Feind zu vernichten.›

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