Es ist ein Bauprojekt, dessen Ziel zu sein schien, einen Rekord nach dem anderen zu brechen. Längstes Gebäude aller Zeiten, die am dichtesten besiedelte Stadt der Welt, der erste nach unten hängende Wolkenkratzer – ein Ort, der das Leben der Menschen neu definieren wollte. Das alles sollte The Line einmal sein. Doch von den großen Träumen ist nur noch wenig geblieben. Das Projekt steht offenbar kurz vor dem Scheitern.
Das arbeitet ein ausführlicher Bericht der "Financial Times" heraus. Die Zeitung hat mit mehr als 20 Personen gesprochen, die in verschiedensten Rollen an The Line gearbeitet hatten. Die großen Pläne schrumpften demnach immer weiter, die Kosten explodierten, selbst fertiggestellte Bauphasen wurden plötzlich nutzlos. Über allem stand der Größenwahn der Planer. Und die Angst, das Scheitern einzugestehen.

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geoThe Line – Projekt der Superlative
Das Konzept war mehr als ambitioniert. The Line wurde als 170 Kilometer langes, 200 Meter breites und durchgehend 500 Meter hohes Gebäude geplant, in dem mehr als neun Millionen Menschen leben sollten. Die Stadt sollte auf im Innern in vertikalen Schächten erbauten Boulevards alles bieten, was Menschen im Alltag brauchen.
Als besonders herausragende Sehenswürdigkeiten waren ein Fußballstadion in 350 Meter Höhe sowie die sogenannte Marina eingeplant. Durch ein Tor im Gebäude sollten Kreuzfahrtschiffe hindurchfahren können. Darüber hing das Kronjuwel: Ein von oben nach unten hängender Wolkenkratzer sollte, an einen Kronleuchter erinnernd, den architektonischen Höhepunkt darstellen.
Die Stadt sollte verändern, wie Menschen in der Zukunft leben, schwärmten die Planer. Weil alles in fünf Minuten erreichbar sein sollte, verzichtete die Stadt auf Autos, allgemein sollte The Line komplett klimaneutral gebaut werden. Ein Hochgeschwindigkeitszug sollte die Bürger in 20 Minuten vom einem Ende am Meer zum Flughafen am anderen Ende bringen.
Scheitern an der Realität
Doch laut den Gesprächen der "FT" mit den Beteiligten waren diese hochtrabenden Pläne vor allem Wunschdenken. Immer und immer wieder stießen sie bei der Umsetzung auf Probleme. Die reichten von der Frage, wie man mit Zugvögeln umgeht, bis zu den Grenzen der Physik.
Das wohl beste Beispiel ist der Kronleuchter. Der wurde nicht von einem Architekten erträumt, sondern von einem Bühnenbildner aus Hollywood. Als ein Architektenteam damit beauftragt wurde, gab es schnell Zweifel an der Umsetzbarkeit. "Ihnen ist aber klar, dass die Erde sich dreht und hohe Gebäude schwingen", wunderte sich einer der Architekten gegenüber dem Planungschef. Der 30 Stockwerke hohe Kronleuchter könnte dadurch zu einer Art Pendel werden, das immer stärker hin und her schwingt – und letztlich abbrechen und in die Tiefe stürzen würde. Doch die Planungen gingen weiter.
Dabei waren einige der Herausforderungen für ein hängendes Gebäude noch viel banaler. Sanitäranlagen beruhen darauf, dass man die Abflüsse von Waschbecken und Toiletten einfach nach unten ablaufen lassen kann. In einem Gebäude, das nach unten hängt, geht das aber nicht. "Wir haben das längst gelöst", bekam einer der Architekten auf diese Anmerkung zur Antwort. "Wir werden mit Hunderten Pendelwagen das Abwasser über herausfahrbare Brücken hinausbringen."
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Auch abseits der besonders ambitionierten Teile des Baus gab es mehr als genug Probleme. Die erste Phase des 2017 angekündigten Projekts sah vor, zunächst zwanzig 800 Meter lange Module der Stadt fertigzustellen, also knapp zehn Prozent der am Ende geplanten Länge. Die ersten Bewohner sollten schon 2025 einziehen.
Bisher wurde aber nicht einmal mit dem Bau auch nur eines Moduls begonnen – weil die Planung der einzelnen Module nicht abgeschlossen ist. In der vertikalen Stadt musste alles neu gedacht werden: Wie geht man mit der Müllabfuhr um, was passiert im Falle eines Brandes? Die Bewohner sollten sich nicht nach unten retten, sondern seitlich in andere Teile der Line ausweichen, überlegten sich die Planer. Dann fiel plötzlich auf, dass in den Großteil eines 200 Meter breiten Gebäudes selbst in der Wüste Saudi-Arabiens nie Sonnenlicht hereinkommt. In der Folge wurden selbst die ersten Änderungen zu den ursprünglichen Plänen x-fach überarbeitet und neu entworfen.
Die erste Bauphase wurde deshalb immer weiter verschlankt. Aus 20 Modulen wurden zuerst zwölf, dann sieben, dann vier. Seit Ende 2023 sollen nur noch drei Module gebaut werden.
Explodierende Kosten
Dabei spielt auch der schier unvorstellbare Materialhunger für ein Projekt dieser Größe eine Rolle. Um genügend Materialien für den Bau der ersten zwölf Module bis 2030 auf die Baustelle zu bringen, müsste alle acht Sekunden ein Laster voll Baumaterial ankommen – 24 Stunden am Tag.
Der Einkauf wäre eine weitere Herausforderung. Pro Modul werden laut Planung 3,5 Millionen Tonnen Stahl, 5,5 Millionen Tonnen Beton und weitere 3,5 Millionen Tonnen Bewehrungsstahl benötigt. Soll alles klimaneutral sein, würde der Bau die gesamte Jahresproduktion an sogenanntem grünen Stahl weltweit verbrauchen – mit entsprechend steigenden Kosten.
Ohnehin explodierten die Kosten des Projekts immer weiter. Sollte The Line ursprünglich 1,6 Billionen Dollar (etwa 1,4 Billionen Euro) kosten, werden mittlerweile Kosten von mindestens 4,5 Billionen Dollar erwartet. Wer die bezahlt, steht in den Sternen. Auch wenn das saudische Königshaus tiefe Taschen hat – 4,5 Billionen Dollar stemmt es nicht einfach so.
Die große Hoffnung war, mit The Line auch Unmengen ausländischer Investoren anzulocken. Doch das passierte nie. Tatsächlich dürfte es nur noch unwahrscheinlicher werden. "Als wir unter sieben (Module) ankamen, wurde es immer schwerer, es als Investment zu verkaufen", gesteht einer der Bauleiter. "Ich glaube, das ist der Grund für das Scheitern des Projekts. Es ist einfach nicht investierbar."
Kritik unerwünscht?
Aus der Reihe der Erzählungen kristallisiert sich aber ein noch viel wichtigerer Grund heraus: Obwohl es unzählige Bedenken, Probleme und Hindernisse gab, die gegen die Umsetzung sprachen, traute sich offenbar niemand, diese bis ganz nach oben zu tragen. Und das Projekt zu stoppen, bevor es zum Geldgrab wurde.
Kein Wunder: The Line ist das Herzensprojekt von Mohammed bin Salman. Der ist nicht nur großer Science-Fiction-Fan, sondern auch Kronprinz und De-facto-Herrscher der saudischen Königsfamilie. Breite Bekanntheit erlangte er wegen seines gnadenlosen Umgangs mit Kritikern. Den brutalen Mord am Journalisten Jamal Khashoggi soll der "MBS" genannte Prinz selbst befohlen haben.
Auch bei The Line traute sich niemand, bin Salman zu widersprechen, berichteten gleich mehrere der von der "FT" Befragten. "Das zugrunde liegende Gefühl im Raum war Angst, die Leute plapperten ihm einfach alles nach" erinnert sich einer. Der Prinz sei mit einer Entourage von 45 bis 50 Leuten unterwegs, die alle darauf warteten, wie er sich äußert. Und lobten und tadelten, wenn er es tat. So soll auch aus dem ursprünglich zwei Kilometer langen Entwurf die 170 Kilometer lange Superstadt geworden sein.
Kein Ohr für Probleme
Zwar soll der Prinz durchaus offen gewesen sein, über die Herausforderungen zu diskutieren – vor allem gegenüber ausländischen Experten. Letztlich habe er aber viele Bedenken und Vorschläge weggewischt. Ideen, die Stadt aus Kostengründen kürzer oder niedriger zu bauen, kamen für ihn nicht infrage.
Ein Beispiel sei die Hochgeschwindigkeitsverbindung vom Meer zum Flughafen. Die Strecke sei mit Hochgeschwindigkeitszügen in zwanzig Minuten zu schaffen, hatte man dem Prinzen erzählt. Also war das die Vorgabe. Allerdings traf das nur zu, wenn der Zug nie anhält. Hochgeschwindigkeitszüge haben nur dann einen Vorteil gegenüber regulären Zügen, wenn sie lange Strecken am Stück fahren können. Weil kein Platz für Gepäck vorgesehen war, hätte man die Koffer acht Stunden vorher separat zum Flughafen schicken müssen.
Die mangelnde Offenheit für Kritik habe dazu geführt, dass die Probleme zwar weiter unten in der Hierarchie bekannt waren – aber die Erwartungen trotzdem nie angepasst wurden. "Wir mussten quasi über die Zeitvorgaben und die Kosten lügen", erinnert sich ein Manager.
Angst vor dem Ende
Möglicherweise ist das Projekt auch nur deswegen noch nicht offiziell tot, weil niemand es nach oben melden will. Die Bauarbeiten an The Line selbst liegen mittlerweile offenbar brach, ein Teil der 6000 bereits gesetzten Grundpfeiler versandet in der Wüste. Nur einige Gebäude am Hafen würden aktuell noch fertiggestellt.
Offiziell ist The Line aber noch im Bau, auch der Kronleuchter ist weiter fest eingeplant – trotz der bekannten Risiken. Neom, die Firma hinter dem Projekt, will ihren Hauptsitz aber mittlerweile nicht mehr in den herabhängenden Wolkenkratzer verlegen.
Quelle: Financial Times
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