Er gilt als «Dummkopf». Als einer, der nichts begreift, ein hoffnungsloser Fall. Schon die Lehrerin in der Schule hat ihn abgeschrieben. Eine Lehre war chancenlos. Später hat es auch der Fahrlehrer irgendwann mit ihm aufgegeben.
Die Rede ist vom Mittdreissiger namens Luchs, der Hauptfigur im Roman «Santa Tereza» des Berner Autors Flurin Jecker. Luchs hat eine leichte kognitive Beeinträchtigung, eine «Lernschwäche», wie er selbst sagt.
Luchs ist ein Aussenseiter. Lebt am Rand der Gesellschaft. Arbeitet als Nachtwächter auf einem Friedhof. Dafür hat es bei ihm gerade noch gereicht: öde Runden drehen zwischen den Grabsteinen, damit niemand Unfug treibt.
Luchs: Eine typische Figur
Laut der Fachorganisation «insieme» leben in der Schweiz rund 85’000 Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen unterschiedlicher Schwere. Oft ohne eindeutige Diagnose.
Für Menschen mit leichter kognitiver Beeinträchtigung sei die Figur Luchs typisch, sagt Monika Zumbühl. Die Sozialpädagogin arbeitet seit vielen Jahren in der Stiftung Balm in Rapperswil-Jona. Die Organisation unterstützt Menschen mit Beeinträchtigung unterschiedlicher Ausprägungen bei der Ausbildung, bei der Arbeit und im Alltag.
Oft würden ihre Klientinnen und Klienten unterschätzt, erzählt Zumbühl. Die Mehrheitsgesellschaft fühle sich diesen Menschen gegenüber überlegen. Zu Unrecht: Denn weit mehr als die sogenannten «Normalos» verfügten sie über die Fähigkeit, «ganz im Moment zu leben und diesen zu geniessen».
So könne etwa eine selbstständige Busfahrt Stolz auslösen. Oder während eines Fests der kurze Auftritt auf der Bühne mit Schlagzeug oder Gesang. Oder der Besuch im Burgerladen. Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, so Zumbühl, hätten oft «die Gabe, aus vermeintlichen Kleinigkeiten Glück zu schöpfen».
Die eigene Sprache finden
Über diese Fähigkeit verfügt auch der einsame Friedhofswächter Luchs in Flurin Jeckers Roman. Spätestens ab dem Moment, da er Freundschaft schliesst zu einer Teenagerin. Sie fragt ihn irgendwann, ob er denn «immer so sein» wolle, als ob er «hundert Jahre alt» sei.
Und fordert damit Luchs heraus. Vermittelt ihm, dem vermeintlichen «Dummkopf», aber auch Selbstvertrauen. Spornt ihn an, es etwa mit dem Gitarrenspiel zu versuchen. Oder seinem verschütteten Traum endlich nachzugeben, seine Geschichte zu schreiben.
Luchs schreibt seine Geschichte auf – und findet schliesslich eine Sprache für sich selbst. Sie scheint ungelenk und holperig, ist bei näherer Betrachtung jedoch hoch elaboriert, kunstvoll und ausdrucksstark: literarische «Art brut».
Luchs gelingt der Schritt hin zu sich selbst, indem er aufhört «auf diese Leute zu hören in meinem Kopf», die ihm einreden wollen, er tauge zu nichts. Er entwickelt Stolz aufs Schreiben. Und auch auf seinen nächtlichen Job auf dem Friedhof und den wohlverdienten Feierabend bei Sonnenaufgang.
Spiegel der Gesellschaft
Mit seiner unbekümmerten Art gerät Luchs zum Gegenentwurf der umtriebigen und von Optimierungszwängen getriebenen Mehrheitsgesellschaft.
Ähnliches erlebt die Sozialpädagogin Monika Zumbühl in ihrem Alltag. Sie bekomme von den Menschen, die sie betreue, täglich «den Spiegel vorgehalten», sagt sie. Und Anschauungsunterricht, dass sich Glück einstellt, wenn man «im Alltag die kleinen Dinge wahrnimmt».
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