Und jetzt schön nachsprechen“, sagt die strenge Schwester im weißen Kittel. „Nicht beißen. Nicht spucken. Nicht hauen. Nicht schreien.“ Jedes Mal macht sie eine kurze Pause, damit man artig wiederholt. Gestern, so hat sie erzählt, soll es wieder einen „Vorfall“ mit dem Pfleger von der Nachtschicht gegeben haben. „Oder haben Sie das schon wieder vergessen, Herr Neuwirth?“ Der Name steht auf dem Leibchen, das ich wie alle Patienten hier in der Demenzklinik über der Pflegekleidung trage. Nur was für ein „Vorfall“? Und wie bin ich hier gelandet?
Ein paar Stunden zuvor sitze ich mit ein paar Dutzend mir fremden Menschen in einem Raum mit Leinwand, auf dem Video ein verregneter Waldweg, dazu unheimliche Spieluhrmusik. Wir sollen uns in einer Simulation auf unser letztes Lebensjahr vorbereiten, informiert uns eine Gruppe in grauen Uniformen, die als Mitarbeiter einer Firma namens Lethe auftreten. Wir sollen unser „pflegebedürftiges Ich“ entdecken, sagen die Wächter der Unterwelt, „nicht spielen, sondern spüren“. Werden wir hier, wie Montaigne einmal schrieb, das Sterben lernen?
Wir werden in kleinere Gruppen unterteilt und in einem Raum geführt, wo wir uns bis auf die Unterwäsche ausziehen. Unsere neue Kleidung bekommen wir in einem Plastiksack überreicht – zusammen mit dem Leibchen. Mir wird Herr Neuwirth zugewiesen, doch mehr als Name und Kostüm gibt es nicht. Nun liegt es an jedem Einzelnen, die Rolle mit Leben zu füllen, das mit dem Leben so eine Sache ist, wenn man den Tod vor Augen hat. Vom Pflegepersonal wird man zudem recht rigide von Raum zu Raum gescheucht. „Wer heilt, herrscht“, steht auf einer Pinnwand im Flur, daneben die Namen Verstorbener.
Möglichst täuschend echt
Auf dem Laminatboden der langen Flure spiegelt sich das Neonlicht, die ganze Umgebung ist wie eine David-Lynch-Version eines Pflegeheims: hyperrealistisch und unheimlich zugleich. Immer wieder ertönt die Spieluhrmelodie aus versteckten Boxen. Schaut man kurz nicht hin, haben manche der „Simulanten“, wie Ärzte, Pfleger, aber auch Mitinsassen von den Grauuniformierten genannt wurden, plötzlich eine starre Maske auf. Irgendetwas fasziniert an dieser Welt, die man freiwillig betreten hat und in der man nun nach ihren eigenen Regeln spielen muss, ja unweigerlich gefangen ist.
Im Fitnessraum mit den abgegriffenen Gummibällen mustere ich die anderen Teilnehmer. Manche scheinen sich mit allen Mitteln des Method Acting in ihr „pflegebedürftiges Ich“ reinzuspüren, mit zittrigen Händen und fisteliger Stimme. Andere fremdeln mit der Gesamtsituation: Jeder Griff unter die Arme, jeder Satz wie zu einem ungezogenen Kleinkind greift das eigene Gefühl für Würde an, trotz Rollenspiel. Wo man sich anfangs verbal zu wehren versucht, resigniert man bald, wird apathisch. Wie die Ausstattung dürfte auch das erschreckend nah am „echten“ Pflegeheim sein.
Natürlich ist nichts echt an dieser Demenzklinik, alles ist eine präzise Inszenierung des Künstlerduos Signa und ihres Teams. Für „Das Letzte Jahr“ wurden mehrere Etagen eines ehemaligen Funkhauses in Wiens umgebaut, sodass die Besucher für sechs Stunden in eine Fantasiewelt eintauchen können, in der der eigene Tod simuliert wird. Eigenartig ist zwar, dass diese Welt – bis zum betreuten Toilettengang, mit Zugucken – sich möglichst täuschend echt anfühlen soll, doch das macht zugleich den Reiz aus: Man kann sich nicht entziehen. Lasst, die ihr eintretet, alle Distanz fahren!
Keine Trennung zwischen Fiktion und Realität
Was Signa machen, nennt sich immersives Theater. Immersion – vom lateinischen Immersio, dem Eintauchen – meint, dass man in eine künstliche Welt einsteigt, ohne getrennte Beobachterposition. Nicht dort die Bühne und hier der Zuschauerraum, aber auch nicht dort Fiktion und hier Erleben. Keine Trennungen. Ab den 1980ern taucht der Begriff gelegentlich auf, im Windschatten der Entgrenzung und Verfransung der Künste bei Performance und Installation. Seit den 2000ern hat sich ein regelrechter Hype um die Immersion entwickelt, mit Gruppen wie Punchdrunk, Secret Cinema oder dreamthinkspeak. Und mit Signa, die als Vorreiter des immersiven Theaters gelten.
Unter den immersiven Theatermachern sind Signa die abgründigsten, wie sie mit „Das Letzte Jahr“ bei den Wiener Festwochen nochmals eindrucksvoll unter Beweis stellen. In anderen Inszenierungen von Signa taucht man in das mysteriöse „Haus Lebensbaum“ einer Weltuntergangssekte ein („Schwarze Augen, Maria“), beschnüffelt und bekläfft sich als „Hundschen“, eine Mischung aus Hunden und Menschen („Wir Hunde“), oder lässt mit Animierdamen und -herren die Hüllen fallen („Club Inferno“). Und in „Salò“, nach „Die 120 Tage von Sodom“ von Pasolini und de Sade, wurden in mehrtägigen Sessions alle Grenzen überschritten, worüber in den Medien heftig debattiert wurde.
Es geht auch weniger extrem, wie die Gruppe Punchdrunk zeigt, neben Signa wohl die bekannteste für immersives Theater. In „Viola’s Room“, ihrer neuesten Produktion in London, unternimmt man eine Barfußreise mit Kopfhörern. Und in der vorigen Arbeit „The Burnt City“ konnte man eine mit antiker Mythologie vollgesogene Neonmetropole erkunden. Während die Besucher bei Signa in oft grenzwertigen Situationen landen, dürfen sie bei Punchdrunk die gebaute Kunstwelt frei erkunden. Es gibt zweierlei Eintauchen: Bei Signa wie Eisbaden im See, bei Punchdrunk im Warmwasserbecken.
Immersion meint mehr als nur Mitmachtheater und doch bleibt der Begriff notwendig etwas schwammig, weil es im Theater immer ein Moment des Eintauchens in die Illusion des Als-ob gibt. Selbst der große Illusionsbrecher Bertolt Brecht sprach vom „Ko-Fabulieren“ der Zuschauer. Nur muss man sich dafür in der Regel nicht neu einkleiden, sondern lässt das in klassischer Tradition im Geiste geschehen. Das immersive Theater bietet hingegen ein unmittelbares sinnliches Erleben, eine Mischung aus Rummel und Gesamtkunstwerk, aus Mysterienspiel und Psychoexperiment.
Immersion und Immersionserfahrung hat es immer schon gegeben. So lässt sich sogar „Don Quichotte“ als Eintauchen in die künstliche Welt eines damals neuen Mediums lesen, nämlich der Bücher, die dem Ritter von der traurigen Gestalt wirklicher als die Wirklichkeit erscheinen. Und auch die von Walter Benjamin in seiner „Berliner Kindheit“ beschriebenen Kaiserpanoramen zogen, wie jetzt Virtual Reality, ihren Reiz aus dem Eintauchen in eine fremde Bildwelt. Und heute gibt es unter anderem Van Gogh als „immersive Erfahrung“, ebenso werben Fitnessstudios und Computerspiele damit.
Was das Theater den Open-World-Computerspielen oder der Virtual-Reality-Aerobic voraushat, ist der Reiz einer gebauten Welt, die nicht nur Pixeln auf dem Bildschirm sind. So kann man in Görlitz am Gerhart-Hauptmann-Theater bestaunen, was die Techniker eines Stadttheaters leisten können. Auf über 4.000 Quadratmetern ist in einem leer stehenden Fabrikgelände hinter dem Bahnhof eine Welt der 20er-Jahre entstanden – mit riesigem Jazz-Club, prächtigen Interieurs, atmosphärischen Hotelfluren, düsterer Autowerkstatt und sogar einem Pool (am Ende landet auch jemand darin).
Computerspieler haben Vorteile
„Gatsby!“ heißt der Abend, den Intendant Daniel Morgenroth nach dem großen US-amerikanischen Desillusionierungsroman „Der Große Gatsby!“ von F. Scott Fitzgerald entworfen hat. Anders als bei Signa wird man als Besucher nicht in eine festgefügte Inszenierungsmaschine eingespannt, sondern läuft wie bei Punchdrunk frei durch das Gelände, während die Handlung an verschiedenen Orten abläuft. Welchem Strang der Erzählung man dabei folgen will, ob dem Autoschlosser George B. Wilson, dem Neuankömmling Nick Carraway oder dem großen Zampano Jay Gatsby, bleibt einem selbst überlassen. Man kann auch nur bei kühlen Getränken im Jazz-Club verweilen.
Anders als bei Signa ist bei „Gatsby!“ auch, dass man für die Spieler wie unsichtbar bleibt. Man wird kein Teil der Handlung, sondern bleibt Zuschauer mit erhöhter Beweglichkeit in einer multiperspektivischen Anordnung. So spielt man weniger Versuchskaninchen als vielmehr Detektiv, der dieses geheimnisvolle Long Island durchstreift. Dass man dabei auf einen Geheimgang im Kamin stößt, eine versteckte Bar entdeckt oder hinter einer Hoteltür auf verbotenes Glücksspiel trifft, bei dem man echtes Geld gewinnen (und verlieren) kann, gehört zu den schönen Überraschungen.
Bereits mit „Malfi!“, nach John Websters „Die Herzogin von Malfi“, hatte Morgenroth eine immersive Welt der Lügen und Intrigen gebaut, in der man selbst entscheiden musste, wohin man geht. Es gibt, so auch bei „Gatsby!“, immer etwas zu sehen – und sei es nur eine kleine Tanz- oder Gesangsszene im Salon. Orientierungsvorteile hat, wer vom nächtelangen Computerspielen zwischen Main Quests, Side Quests und Easter Eggs zu unterscheiden weiß, wobei man an allem Spaß, nur wegen der begrenzten Zeit nicht immer alles haben kann. Mehrfache Besuche lohnen sich bei Abenden wie „Gatsby!“ tatsächlich, weil man das Geschehen jedes Mal völlig anders erleben kann.
Tod beim Tanztee
Bei Signas „Das Letzte Jahr“ absolvieren die Zuschauer einen Parcours, bei dem die Reihenfolge der Stationen zwar unterschiedlich ist, die Stationen in sich aber einem festen Skript folgen. Ob man erst beim Tanztee mit Blick auf die Strandfototapete den Schaukelstuhlschritt übt oder in der geheimen Bar hinter einer Tür im Schrank landet, wo man mit einer grimmigen Barkeeperin seine Kräfte misst und Schnaps trinkt, ist zufällig. Ebenso, wann sich die Tür öffnet und Sohn oder Tochter auftauchten, die einem vom draußen tobenden Bürgerkrieg und Staatszerfall berichten, wovon man im Pflegeheim schon allein durch die bedrohliche Geräuschkulisse etwas mitbekommt.
Der Tod kommt sehr plötzlich, beim Tanztee. Und trotz der Gesprächstherapie im Abschiedszimmer fühlt man sich, nun ja, unvorbereitet. Es folgt ein großer Leichenzug zum Finale, bevor man nach insgesamt sechs Stunden sein „pflegebedürftiges Ich“ mit den Pflegeklamotten wieder ablegen darf. Hat man nun das Sterben gelernt? Oder nur gelernt, dass man lieber nicht in einem Heim wie diesem sterben würde? Oder geht es gar nicht ums Lernen, sondern nur um das Erleben einer extremen Spielsituation? Eine Situation, in der es kein Außen gibt, sondern nur ein aktivierendes Mitmachen?
Oder wird auf einen Einbruch der Realität spekuliert, der von den Besuchern kommt? Tatsächlich werden in „Das Letzte Jahr“ echte Tränen vergossen, wohl mehr als bei den meisten anderen Theaterbesuchen. Für die Besucher gibt es zahlreiche Möglichkeiten zur seelischen Selbstentblößung, die dankbar angenommen werden. Was ermöglicht solche intimen Gefühlsausbrüche vor Fremden? Ist es gerade das strenge Korsett der zugewiesenen Rolle? Die geschlossene Künstlichkeit dieser todeslastigen Welt? Oder die Unmittelbarkeit des Erlebens, die die üblichen Kontrollinstanzen ausschaltet?
Was im immersiven Theater erlebt wird, kann unter die Haut gehen – und zwar ohne Umwege über die Reflexion. Dass man sich wie im klassischen Theater als ästhetisch gespaltenes Subjekt erlebt, dass sich beim Beobachten beobachtet, wird durch den Wegfall von Distanz außer Kraft gesetzt. Vom „Theater der Vereinnahmung“ spricht die Theaterwissenschaftlerin Theresa Schütz. Kritisch kann man das auch einen Kult der Umittelbarkeit nennen, wie die Literaturwissenschaftlerin Anna Kornbluh in ihrem Buch „Immediacy“ argumentiert. Für Kornbluh ist das der Stil des Zu-spät-Kapitalismus, in dem es kein Außen mehr gibt, sondern nur noch das stählerne Gehäuse der Immanenz.
Handelt es sich bei der Immersion um die Rückkehr der umfassenden Sinnlichkeit ins Theater? Eine Neuauflage des romantischen Eskapismus? Eine Faszination fürs Worldbuilding wie in PC-Spielen? Oder eine postkritische Ästhetik des unmittelbaren Erlebens? Um solche und andere Fragen wird es bei dem Symposium „Immersive Praktiken: Austausch und Perspektiven“ gehen, das am 30. August in Görlitz stattfindet (verbunden mit einem Besuch von „Gatsby!“). Über immersives Theater lässt sich streiten: Denn wer eintaucht, kann klüger wieder auftauchen – oder untergehen.
„Das Letzte Jahr“ von Signa läuft bis 29. Juni bei den Wiener Festwochen und „Gatsby!“ von Daniel Morgenroth bis 13. Juli am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz.
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