Diese „Dark Side of the Moon“, sie hat leider gar nichts mit dem gleichnamigen achten Studioalbum von Pink Floyd zu tun. Erschienen 1973, zählt es mit bis heute über 50 Millionen verkauften Exemplaren zu den weltweit erfolgreichsten Popwerken. Und es dauert selbst als Schlüsselopus des progressiven Rocks nur dichte 47 Minuten.
„Die dunkle Seite des Mondes“ ist hingegen – 18 Jahre nach ihrer ersten, in München uraufgeführten Oper „Alice in Wonderland“ – erst das zweite Musiktheater von Unsuk Chin. Die 64 Jahre alte, in Berlin lebende koreanische Komponistin brachte es jetzt an der Hamburgischen Staatsoper heraus. Es sollte das grandios orchestrierte Finale der zehnjährigen Ära ihres Freundes Kent Nagano, der auch im Graben stand, als Generalmusikdirektor sein.
Der freilich, aber auch die Intendanz und der Verlag, hätten dieses absolute Desaster verhindern müssen, das auch dem Opernhaus keinerlei Ehre macht. Denn das dreistündige Werk, das den zwar mit dem Nobelpreis ausgezeichneten, trotzdem wenig bekannten Quantenphysiker Wolfgang Pauli in seiner Beziehung zu dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung poetisch überhöht, ist einfach nicht fertig geworden. Noten kamen bis zur letzten Minute. Man erlebt extrem redundante Text- wie Musikflächen, ohne jede Dramatik, aber mit sich immer wieder ähnelnden Situationen und Stimmungen.
Das alles hätte nach Kürzungen geschrien. Allein von der ersten, knapp 30 Minuten langen Szene, die den hier Dr. Kieron Genannten als fiesen Chef und unguten Zeitgenossen vorführt, hätte ein Drittel gelangt.
Was extrem schade ist, denn die im letzten Jahr völlig zu Recht mit dem Siemens-Musikpreis ausgezeichnete Chin ist eigentlich eine skrupulöse, fast perfekte Tonsetzerin von eigenwilliger Kraft, fein ziselierter Farbenpracht, kleingliedriger Orchesterbehandlung und starker Setzung. Ihre Stücke stimmen immer, sind sehr bewusst auf den Punkt gebracht. Doch mit diesem – wohl auch etwas zu sehr privatmythologisch ins eigene Unterbewusste abdriftenden – Unding hat sie sich leider völlig verhoben. Und alle Beteiligten hätten eine Premiere und diesen selbstverursachten Rufmord nicht zulassen dürfen.
Der Souffleur wird zur zentralen Figur
Was Unsuk Chin wollte, ist gar nicht so neu und besonders. Auch John Adams beschäftigte sich schon 2005 in „Doctor Atomic“ erfolgreich mit dem längst zur Kunstlegende gewordenen Atomphysiker Robert Oppenheimer. Musicals wie Kurt Weills „Lady in the Dark“ (1941) und Eric Woolfsons „Freudiana“ (1990) versuchen Psychoanalyse, Ich, Über-Ich und Träume klanglich zu ergründen. Auch Prokofjews mittelalterlich mystischer „Feuriger Engel“ fällt zu dem Thema ein. Und Faust-Opern, die einen skrupellos nach Wissen Strebenden mit einem dämonischen Prinzip paktieren lassen, gibt es sowieso in rauen Mengen.
An der Biografie des zeitweilig in Hamburg lehrenden Wolfgang Pauli (1900 bis 1958) wollte Unsuk Chin trotz des gerade gefeierten „Jahr der Quantenphysik“ anlässlich des 100. Jubiläums der Quantenmechanik nicht kleben bleiben. Ebenfalls ist C.G. Jung hier verfremdet als Meister Astaroth eher ein Sektenführer, der sich am noch einmal alles klangaufbietenden Ende als Böses prophezeiender Satan entpuppt. Eine drogensüchtige Frau aus der Halbwelt, die Pauli kannte, wird zum nur schemenhaft spießigen Prinzip anrüchiger Weiblichkeit. Besonders peinlich sind allerdings die Szenen mit drei, teilweise nur Silben wimmernden, höchst gröblich skizzierten Traumfiguren namens Lichtwesen, Anima und das lichte Wesen.
Obwohl eine (offenbar noch Erste Hilfe leistende) Verlagsmitarbeiterin aufgeführt ist, zeichnet Unsuk Chin auch für das Libretto verantwortlich, das mal kalauernd („was soll ich mit der Sonne? Ich mach‘ doch keine Fotosynthese!“) mal blumig-albern („Ich trage dich wie eine tiefe Narbe in mir“) einfach nicht aufhören will. Diese Masse von Buchstaben lässt sich längst nicht mehr singen, also wird sie weggesprochen, soweit die bedauernswerten Darsteller sich überhaupt den Text merken können. Souffleur Marco Kim wurde immer mehr zur zentralen Figur des überlang-langweiligen Abends.
Dauernd wiederholen sich völlig spannungsfreie Situationen und Szenen. Und so findet auch die anfänglich raffiniert irrlichternde, soghaft und lauernd perkussive Partitur kein Ende, dreht sich immer wieder neu im Kreis. Sie gestaltet Kent Nagano gewohnt sorgfältig, lässt ihr Farbenspiele aufleuchten, kitzelt den dezent vorhandenen Witz, aber kann die Längen auch nicht gliedern und Repetitionen variieren.
Sichtbar postiert sind rechts Celesta (die man überhaupt nicht hört) und links Akkordeon. Das kommt besonders gern in den an Bergs „Wozzeck“ erinnernden Nachtclub-Szenen zum Einsatz, aber auch sonst so oft, immer nur für ein, zwei schräge Akkorde, dass man irgendwann aggressiv einschreiten möchte. Da wäre ein strenger Rotstift vonnöten gewesen, doch was nicht fertig ist, kann auch nicht beschnitten werden.
Das Opernhaus leert sich
Was müssen da die Proben für ein Schwimmfest gewesen sein! Man merkt es auch der versierten Inszenierung des britischen Duo Dead Center (Ben Kidd, Bush Maukarzel) an: Die wussten gar nicht, wohin sie letztlich führen sollen. Und so erlahmt selbst der hübsche Effekt des engen Studierzimmers mit seinen fluiden Podesten und auseinanderfliegenden Wänden, auf das gleichzeitig in Großaufnahme kameragezoomt wird spätestens bei der 15. Wiederholung. Die inhaltliche Leere können auch feine Projektionen von elektromagnetischem Nebel, Himmelssphären, Schneegriesel und Live-Videos nicht überspielen. Technische Ausfälle kamen noch hinzu.
Gleichmütig dreht sich die Drehbühne, samt mal roter, meist schwarz oder weißer, dreistöckig teilbarer Trennwand (Bühne: Jeremy Herbert). Hinter der hält der stoisch im Moderne-Dauereinsatz sich souverän produzierende Bo Skovhus als Astaroth Hof auf der Designer-Couch wie weiland Florence Ziegfeld mit seinen Revue-Follies. Vorn ätzt Thomas Lehman als buchhalterischer Dr. Kieron, der jetzt lernen muss, die Superbombe zu lieben, die er gar nicht bauen will. Das übel meinende Kollegentrio bremst ihn aus – wegen verdächtiger Geometriezeichnungen und eines zweifelhaften Liebeslebens mit der ungewollt nur sopranschattigen Siobhan Stagg (Miriel) in ihrem von der Seite hereinfahrenden roten Käfig der Sünde.
Schon im zweiten Teil war das Opernhaus nicht mal mehr halb voll, die Verbliebenen klatschen sich irgendwie diesen kapitalen Musiktheaterflopp schön. Der bei etwas Verantwortung nicht hätte sein müssen. Nur wer mag dieses ziellose Fragment einer kreativen Verirrung über eine dunkle Seite, von der niemand etwas wissen will, jetzt noch sehen, oder am 24. Mai in der ARD hören?
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