Wir trafen ihn in Cannes, wo er seinen Film „Eddington“ vorstellte:, aber sprachen über Amerika: Im Interview erklärt der Regisseur Ari Aster den gesellschaftlichen Wahnsinn, den Verlust gemeinsamer Realitäten und warum das Kino heute ins Surreale abgleiten muss, um der Wirklichkeit gerecht zu werden.

WELT: Ihr neuer Film behandelt Pandemie, Verschwörungstheorien, Identitätspolitik – war das von Anfang an so geplant?

Ari Aster: Ich wollte einen Film darüber machen, wie sich das Land für mich anfühlt und was ich sehe. Ich wollte einen Weg finden, zurückzutreten und zu zeigen, was meiner Meinung nach passiert – nämlich dass wir alle verrückt geworden sind. Der Film ist ein Versuch, diesen Zustand zu dokumentieren, die verschiedenen Facetten der Verrücktheit darzustellen und zu untersuchen, wie wir an diesen Punkt gelangt sind.

WELT: Diesen Eindruck vermitteln tatsächlich alle Figuren, jede Einzelne driftet völlig ab.

Aster: Ja, aber das ist gefährlich. Wir wurden alle irgendwie in den Wahnsinn getrieben. Noch wichtiger ist: Wir haben den Zugang zu einem gemeinsamen fundamentalen Verständnis dessen verloren, was eigentlich geschieht. Wir haben den Zugang zu den Dimensionen der größeren Welt außerhalb von uns verloren. Wir kennen nur die Dimensionen der kleinen Welt, an die wir glauben. Ich wollte einen Film darüber machen, was passiert, wenn Menschen, die in verschiedenen Realitäten leben, aufeinandertreffen und in Konflikt geraten. Welche neue Logik entsteht daraus, die dann die Menschen in Besitz nimmt? Es fühlt sich an wie ein Experiment, das wir gerade durchleben, mittendrin, und es ist offensichtlich schiefgegangen. Es funktioniert nicht, aber niemand scheint daran interessiert zu sein, es zu stoppen. Jeder ist so fest in seiner eigenen Realität verankert, dass der Gedanke, einen Schritt zurückzutreten und das große Ganze zu betrachten, fast unmöglich geworden ist.

WELT: Der Film zeigt ein Kaleidoskop aus Rationalität und Wahnsinn, besonders deutlich bei dem jungen Mann, der sich der Identitätspolitik nur zuwendet, um bei einem Mädchen zu punkten.

Aster: Das ist absolut richtig. Es war mir wichtig, auf die Heuchelei hinzuweisen, aber auch zu zeigen, dass es Menschen gibt, die wirklich von diesem Überzeugungsfieber ergriffen sind und an die Bewegung glauben. Teil dieses Tribalismus ist, dass solche Überzeugungen auch in moralischen Zwang ausarten können. Manche Menschen schließen sich an, um Teil des Stammes zu sein, aber die Verbindung ist brüchig. Was für mich interessanter ist als die Heuchelei und die verschiedenen Ideologien: Wir befinden uns alle in derselben Situation und werden von denselben Dingen angetrieben. Es gibt diese Grundangst, diese Orientierungslosigkeit, die alle empfinden, unabhängig vom politischen Lager oder der Weltanschauung. Das verbindet uns, auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen. Der Film handelt besonders vom Unterschied zwischen Politik und politischen Maßnahmen. All diese Menschen verstricken sich in Politik, schreien sich an und töten sich wegen Politik. Währenddessen passieren die eigentlichen politischen Maßnahmen woanders. Nichts geschieht wirklich. Wir stecken fest. Wir befinden uns in einer Stasis, und das ist kein Zufall. Das ist Absicht. Wir stecken fest, während sich die Dinge schnell verändern, aber wir sind in einer Feedbackschleife, und das ist ein sehr nützliches Werkzeug. Für wen es nützlich ist – das ist die andere Frage, der wir uns stellen müssen.

WELT: Hat die Arbeit am Film Ihre eigene Haltung beeinflusst?

Aster: Ich habe eine sehr starke persönliche Haltung. Aber bei diesem Film interessiert mich die Umgebung, nicht das Durchsetzen meiner persönlichen Ansichten. In dem Moment, in dem ich anfange, meine persönliche Haltung zu behaupten oder zu missionieren, wird es moralisierend, uninteressant und zu eng. Man verliert dann die Fähigkeit, die Komplexität einer Situation wirklich zu erfassen und abzubilden. Wenn man einen Film dreht, geht es darum, etwas umzusetzen. Das ist am wenigsten analytisch. Da will man frei sein und aufhören, so zu denken, und einfach den Film zum Funktionieren bringen und lebendig werden lassen. Es war mir sehr wichtig, keinen dieser Menschen zu verurteilen. Ich musste tatsächlich an ihnen interessiert sein, selbst an den Heuchlerischsten – ich sehe mich selbst in den Heuchlerischsten. Wir alle haben diese Tendenz in uns, unter bestimmten Umständen inkonsequent zu sein oder unsere Grundsätze zu verraten. Das macht uns menschlich, und das wollte ich nicht verurteilen, sondern verstehen.

WELT: Paranoia war schon in Ihren früheren Filmen zentral, besonders in „Beau Is Afraid“ – jetzt auf gesellschaftlicher Ebene?

Aster: Wenn ich einen Film über Amerika oder die Welt von heute mache, sehe ich nicht, wie man das ohne diese Art von Paranoia tun kann. Wir haben alle Angst, fühlen uns machtlos und sind paranoid. Und Paranoia bedeutet, dass niemand wirklich sicher sein kann, ob die Angst begründet ist oder nicht. Ist die Bedrohung real oder eingebildet? Die Grenzen verschwimmen zunehmend. Wir misstrauen Menschen, deren Weltsicht sich von unserer unterscheidet, und das wird immer mehr zur Realität – wir stecken alle in unseren eigenen individuellen Silos. Je entfremdeter wir voneinander sind, desto paranoider werden wir. Das ist ein selbstverstärkender Kreislauf. Die Isolation verstärkt die Paranoia, und die Paranoia verstärkt die Isolation. Aber da draußen gibt es Macht, große Macht. Das ist eine andere Geschichte. Und diese Macht profitiert von unserer Paranoia und Spaltung. Sie nutzt sie aus und verstärkt sie sogar, während wir uns in unseren eigenen kleinen Kämpfen verlieren.

WELT: Die Macht – verkörpert durch das Datenzentrum am Ende des Films – bleibt im Hintergrund. Ein Thema für Ihren nächsten Film?

Aster: Ich habe „Eddington“ als Film über ein Datenzentrum beschrieben, das gebaut wird. Das ist er wirklich. All diese Geschichten, die wir im Film gesehen haben, sind wirklich nur mehr Daten für dieses riesige hölzerne Rad, das sich dreht, um sie in etwas zu verwandeln. Was wird es daraus machen? Wir wissen es nicht. Mit Künstlicher Intelligenz stehen wir am Beginn von etwas. Wir rasen darauf zu. Und wir tun es, weil wir es können. Was wir immer tun. Es gibt diese unaufhaltsame Qualität des technologischen Fortschritts, die mich fasziniert und ängstigt. Wir bauen Systeme und Strukturen, deren volle Konsequenzen wir nicht verstehen können, und doch treiben wir sie voran. Das Datenzentrum am Ende des Films ist eine physische Manifestation dieser abstrakten Machtstrukturen, die unser Leben prägen, ohne dass wir sie wirklich durchschauen oder kontrollieren können.

WELT: Sie wechseln vom Realen zum Surrealen, zum Albtraumhaften – warum diese Erzähltechnik?

Aster: Dieser Film scheint mehr in der Realität verwurzelt zu sein, in einer Art modernem Realismus. Trotzdem ist das Metaphorische sehr stark darin. Die surrealen Elemente sind für mich notwendig, um die Wahrheit unserer Zeit einzufangen. Die Realität selbst hat etwas Unwirkliches, Albtraumhaftes angenommen. Wenn man versucht, die heutige Gesellschaft realistisch darzustellen, muss man fast zwangsläufig ins Surreale, Groteske abgleiten, weil unsere Realität selbst diese Qualitäten angenommen hat. Die Ereignisse der letzten Jahre – sei es die Pandemie, die politische Polarisierung, der Aufstieg der sozialen Medien – haben eine Welt geschaffen, die sich manchmal anfühlt wie ein schlechter Traum oder eine Satire. Meine Erzähltechnik versucht, diesem Gefühl gerecht zu werden.

WELT: Versuchen Sie, das Kino als Kunstform zu erweitern?

Aster: Ich würde es nie so ausdrücken, es klingt mir zu hochtrabend. Aber ich interessiere mich sehr für Filme und auch Bücher, alles, was das Medium vorantreibt oder experimentiert. Es geht nicht um Experimentieren um des Experimentierens willen, sondern darum, neue Wege zu finden, um Geschichten zu erzählen, die für unsere Zeit relevant sind. Ich wollte eine Sprache finden, um eine alte Geschichte auf eine Weise zu erzählen, die zu diesem Moment passt, an dem wir jetzt stehen. In mancher Hinsicht finde ich es einen sehr traditionellen Film – ein Ensemble-Kleinstadtdrama über Menschen, ein Netzwerk von Menschen. Filme wie „The Last Picture Show“ oder „Nashville“ haben das schon vor Jahrzehnten gemacht, und letzterer war damals radikaler als mein Film heute. Es geht darum, wie ich etwas mache, das sich wirklich mit der Welt auseinandersetzt, in der ich jetzt lebe. Ich denke, es gibt eine echte Vorliebe für Nostalgie, besonders in letzter Zeit. Besonders wenn die Dinge außer Kontrolle geraten, klammern sich die Menschen an alte Formen und alte Dinge, und das sehe ich viel im Film. Ich wollte etwas machen, das überhaupt nicht nostalgisch ist – einen Film, der direkt in der Gegenwart verankert ist, mit all ihren Widersprüchen und Absurditäten.

WELT: Sehen Sie einen Ausweg aus dem gesellschaftlichen Dilemma, das Ihr Film analysiert?

Aster: Ich glaube, wir haben sogar die Idee oder den Glauben an einen kollektiven Akteur verloren, der eine Gegenkraft zu dem sein könnte, was geschieht. Das ist etwas, das meiner Meinung nach fehlt und zurückkommen muss. Darin steckt die Idee, uns wieder miteinander zu beschäftigen. Wir brauchen neue Formen der Gemeinschaft, der Solidarität, die nicht auf Tribalismus oder Identitätspolitik basieren. Wir müssen wieder lernen, über unsere eigenen kleinen Realitätsblasen hinauszuschauen und einander als Menschen zu begegnen, nicht als Vertreter von Ideologien oder politischen Lagern. Das klingt vielleicht naiv oder utopisch, aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Die Alternative ist eine weitere Vertiefung der Gräben, mehr Polarisierung, mehr Isolation – und letztlich ein noch größerer Kontrollverlust über unser gemeinsames Schicksal. Die Mächte, die von unserer Spaltung profitieren, werden nur stärker werden, wenn wir nicht lernen, wieder miteinander zu reden und gemeinsame Interessen zu erkennen.

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