Mit seiner Erzählung "Bartleby, der Schreiber" schuf Herman Melville eine absolut rätselhafte Figur. Aber genau das macht das Buch zu Weltliteratur von zeitloser Schön- und Kühnheit. Seine Themen passen in unsere und wahrscheinlich jede künftige Gegenwart.
Herman Melville hat uns zwei Werke der Weltliteratur hinterlassen, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Das eine, "Moby Dick", ist ein Wälzer von - je nach Druck - gut 800 bis etwas mehr als 1000 Seiten. Darin wird das Riesenrad literarischer Möglichkeiten gedreht. Es geht um das Große und Ganze, die Menschheit und ihre - bis heute anhaltenden - Kämpfe mit dem Unbeherrsch- und dem Unbesiegbaren. Samt dem bis ins Fanatische oder Wahnsinnige gesteigerten Verlangen, alles in den Griff zu bekommen, am Ende aber zu scheitern und unterzugehen.
Das andere, "Bartleby, der Schreiber", ist nicht mal eine Novelle, sondern eine Erzählung von lediglich mehreren Dutzend Seiten. Sie dreht sich um das Kleine im Großen, den Menschen als Individuum, der die innere Immigration als (scheinbar) einzige mögliche Lebensform erwählt, alles, was an ihn herangetragen wird, ablehnt, zuletzt sogar die eigene Existenz. Beide Meisterwerke haben also auch eine starke Gemeinsamkeit: Sie durchleuchten und erkunden Sinn und Unsinn sowie seelische Tiefen und Untiefen des menschlichen Schaffens. Sie werfen zentrale Fragen des Daseins auf, ohne umfassende Antworten zu geben. Sie sind wie das Leben selbst: nicht wirklich zu entschlüsseln.
Das gilt umso mehr für "Bartleby", das sich wegen seiner bis ins Absurde gehenden Story - viele Jahrzehnte vor Franz Kafka - in unzählige Richtungen ausdeuten lässt. Die Titelfigur ist der Urvater der Totalverweigerung und die wohl bekannteste Gestalt der Weltliteratur, die niemand versteht. Oder besser: niemand verstehen kann. Bartlebys berühmtester Satz lautet: "Ich möchte lieber nicht." Dieser Satz ist das Programm seines recht kurzen Verweilens auf der Erde. Denn der Bursche sagt nie, was er möchte, was sein Herz begehrt, was er erlebt hat, was sein Problem ist - wir erfahren nicht einmal, ob er überhaupt eins hat oder vielleicht zufrieden stirbt. Der Schreiber ist und bleibt ein ewiges Mysterium.
Speisehaus oder doch lieber Kneipe?
Doch zunächst sei erklärt, was der Anlass ist, über ein Buch zu schreiben, das 1853 unter "Bartleby, der Schreiber: Eine Geschichte aus der Wall Street" erstmals erschienen ist. Der Kampa-Verlag hat das Werk von dem deutschen Schriftsteller Karl-Heinz Ott neu übersetzen lassen. Seine Version orientiert sich deutlich stärker an unserer heutigen Sprache als frühere. Ein Beispiel: "Seinen Kleidern hafteten häufig Fettspuren und der Geruch von Speisehäusern an", heißt es in der von Karlheinz Ziem übertragenen Ausgabe des Münchner Verlags C.H. Beck. Ott entschied sich für: "Seine Kleider sahen oft speckig aus und rochen nach Kneipe." Im Original steht "eating-houses" - so wurden in den USA zu jener Zeit die Vorläufer heutiger Restaurants genannt.
Literarische Puristen werden lieber zu älteren Übersetzungen greifen, weil sie näher an der Sprache der Mitte des 19. Jahrhunderts sind. Allen anderen - besonders jüngeren Leuten - sei die feine Version von Ott ans Herz gelegt. Sie macht den Text noch zugänglicher, als er es ohnehin ist - zum sperrigen "Moby Dick" liegen Welten. Doch welche Ausgabe man auch liest: Das Werk ist von zeitloser Schön- und Kühnheit, seine Themen passen in unsere und wahrscheinlich jede künftige Gegenwart.
Die Handlung spielt weitgehend in der Kanzlei eines Notars an der New Yorker Wall Street, der die Rolle des Erzählers einnimmt. Seine zunächst drei Angestellten - damals wurden wichtige Dokumente mehrfach händisch kopiert - beschreibt er mit liebevoller Distanz und einiger Komik. Über den zwölfjährigen Laufburschen heißt es etwa: "Sein Vater war Kutscher und wollte, noch bevor er starb, seinen Sohn auf einem Richterstuhl sehen und nicht auf einem Pferdekarren." Doch dann stellt der Notar Bartleby ein, der mit seiner Passivität, seiner Teilnahmslosigkeit, seiner Verweigerung alles durcheinander bringt. Der Erzähler schwankt bald zwischen Mitleid, Verständnis und Hilfsangeboten, Ärger, Abneigung und Wut für das rational nicht nachvollziehbare Handeln des Sonderlings.
Der Schreiber reagiert auf jede Anweisung seines Chefs mit dem Satz: "Ich möchte lieber nicht." ("I would prefer not to".) Nur ein einziges Mal gewährt Bartleby Einblick in sein Seelenleben. Als ihm der Kanzleibetreiber anbietet, eine Stelle in einer Kurzwarenhandlung zu beschaffen, bekennt er, der freiwillig wie ein Gefangener lebt: "Da würde ich mich eingesperrt fühlen." Selbst als Bartleby dann auch noch in den Büroräumen nächtigt, schafft er es nicht, den Nein-Sager rauszuschmeißen. Er tut es zwar - doch der bleibt einfach da. Der Erzähler gesteht: "Dabei war es vor allem diese wunderliche Sanftmut, der ich nicht nur nichts entgegenzusetzen vermochte, sondern geradezu den Verlust meiner Manneskraft verdankte."
Ein totales Nein
Den allermeisten Lesern dürfte es wie dem Notar gehen: Es zerreißt einem das Herz - und zugleich ist man verwundert ob der konsequenten Haltung, dem Leben und der Gesellschaft mit einem totalen Nein zu begegnen. Das allerdings ist es, was den gigantischen Interpretationsspielraum öffnet: Ist die Titelfigur Verräter oder Opfer der Gesellschaft? Schöpfer oder Zerstörer? Pionier des Existenzialismus? Früher Vertreter des - gesunden oder egozentrischen - Individualismus? Ein Ausgebeuteter, der den Kapitalismus anprangert? Ist Bartleby ein Opfer der Moderne? Oder vielleicht Melville, der sein "Scheitern" als Schriftsteller - er konnte nie von seinen Büchern allein leben - verarbeitet und den Literaturbetrieb bloßstellt?
In jedem Fall - und das kann nur großartige Literatur leisten - zwingt der Autor seine Leserschaft, auf ihre eigene Ambivalenz zu schauen, wie sie mit Menschen umgeht, die berühren und zugleich verwirren oder gar Ekel erzeugen, weil sie sich sehr anders verhalten als jene, die die Gesellschaft als normal versteht. Vielleicht ist Bartleby sogar eine Einbildung, eine Erfindung, die das Unterbewusste des Notars widerspiegelt, der rauswill aus seiner Welt, aus seinem Büro mit dem Blick auf die einengenden Mauern gegenüber.
Melville animiert dazu, über Humanität und das solidarische Miteinander nachzudenken. Bei dem Notar siegt die Menschlichkeit. Er hält zu Bartleby, obwohl er ihm kündigt, und bezeichnet ihn am Ende sogar als "Freund", während der Schreiber sich im Gefängnis treu bleibt, seine Totalverweigerung gegen alles und nichts fortsetzt und - wieder auf Grenzen setzende Mauern starrend - zugrunde geht. Der Kanzleibetreiber, der stets versucht hat, den Sonderling im Innersten zu verstehen, hat da längst begriffen, dass das Motiv für Bartlebys Handeln in nicht sichtbaren Verletzungen, einem der Außenwelt unbekannten, unheilbaren Leid liegt.
Melville, der als Autor seiner Zeit weit voraus war, lässt den Notar - ein halbes Jahrhundert vor der Erfindung der Psychotherapie - sagen: "Zwar konnte ich diesem Geschöpf Almosen geben, allerdings war es nicht sein Körper, an dem er litt, es war seine Seele - auf sie jedoch konnte ich keinerlei Einfluss nehmen." Die Erzählung endet denn auch mit einem resignativen Seufzer, der zugleich als Appell gedeutet werden kann, es besser zu machen: "Ach Bartleby! Ach Menschheit!"
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