Es waren einfachere Zeiten, im Nachhinein. Der bebrillte Mann auf einem Banner der Künstlergruppe Taring Padi bei der letzten Documenta war für die Kommentatoren noch eindeutig als antisemitisches Bild lesbar gewesen – Schläfenlocken, SS-Runen am Hut, gelbe Reißzähne. Ebenso der Soldat mit dem Davidstern auf dem Halstuch und „Mossad“-Helm.
Damals, im Sommer 2022, fiel es auch wohlmeinenden Kritikern schwer, sich mit einem angeblich ganz anderen Kontext der indonesischen Prostestkunst von Taring Padi aus der Affäre zu ziehen. Ein gutes Jahr später überfiel die Hamas Israel und ermordete 1200 Menschen, der Gaza-Krieg brach aus. Seitdem ist es im globalen Kunstbetrieb wieder völlig normalisiert worden, Judenhass in postkoloniale Erlösungsfantasien zu verpacken und damit Biennalen, öffentliche Sammlungen und Instagram-Storys zu füllen. Die Documenta-Diskussion von 2022 erscheint einem heute harmlos, wie tiefe Vergangenheit.
Reicht es nicht mal langsam, dachte man also bei der Ankündigung der Diskussion „Verstörende Kunst“ im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Haben wir nicht genug über die Documenta fifteen gesprochen? Nein, findet Heinz Bude, Buchautor der Gründungsdirektor des documenta-Instituts. Der prominente Soziologe hat ein ganzes Buch über die 15. Ausgabe der Schau und ihren Skandal geschrieben, „Kunst im Streit“, gemeinsam mit Meron Mendel. Es erschien im März. Parallel dazu brachte der 76-jährige Ökonom und Soziologe Michael Hutter „Anstößige Bilder. Gesellschaftskampfspiele um den documenta- fifteen-Skandal“ heraus.
Ein Skandal als Wegscheide
„Im Blick zurück entstehen die Dinge“, wie es in einem Tocotronic-Lied heißt. Manches braucht eben Zeit. „Im Grunde verstehen wir jetzt erst so langsam“, erklärt Heinz Bude auf dem Podium, „welche Bedeutung die Documenta fifteen gehabt hat“. Auf der Veranstaltung wurde eine gute Stunde darüber diskutiert, wie die Documenta als Plattform für gesellschaftliche Konflikte genutzt wurde und welche Dynamiken zwischen Kunst, Politik und Öffentlichkeit entstanden sind, ob der viel beschworene Globale Süden überhaupt noch eine Kategorie sein kann in einer multipolaren Welt (Bude glaubt das nicht).
Im Mittelpunkt aber stand weiterhin die Debatte um die Grenzen zwischen Israelkritik und Israelfeindlichkeit. Beide Autoren gehen mit soziologischem Besteck an die Documenta, beide sind sich in vielem nicht einig. Hutter beklagt in seinem Buch wie auf dem Podium die Verständnislosigkeit und die Ignoranz, die dem kuratierenden Kollektiv Ruangrupa aus den etablierten deutschen Medien entgegengebracht wurde. „Das wurde wiederum von Ruangrupa unter Rassismus abgehandelt – also jegliche Form der Herabwürdigung, weil sie eben nicht Europäer oder Westler sind. Es wurde dort als Rassismus aufgefasst, aber es ist komplexer als Rassismus. Es ist schlicht ein Nicht-Kennen und auch ein Nicht-Kennen-Wollen der kulturellen Umgangs- und Traditionsformen, die in anderen Gegenden der Welt gängig sind“.
Hutter moniert noch einiges mehr an der Documenta-Rezeption durch die Medien, etwa, dass in den Berichten damals Einzelfälle verallgemeinert worden seien, dass einzelne Figuren wie der Schläfenlocken-Reißzahn-Jude aus ihrem Gruppenkontext gerissen worden seien und von den Zeitungen „affektiv aufgeladene, die Zeichnung vereinfachende Sprachformen der Beschreibung gewählt wurden“, wie er schreibt.
Für Hutter, der bis zu seiner Emeritierung 2015 Direktor der Abteilung Kulturelle Quellen von Neuheit am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung war, markiert die Diskussion um die Documenta fifteen insgesamt einen „konservativen Backlash“, wie man ihn gerade auch auf dem Feld der Politik erlebe. Eine Interpretation, die unter postkolonialen Linken weitverbreitet ist – und die Heinz Bude vehement verneint.
„Die sagen eigentlich alle dasselbe“
„Ich kenne es doch von Stellenbesitzungen“, so Bude. „Da wird gesagt, ja, wir wollen jetzt auch mal mehr Diversität haben. Aber dann sagen doch alle dasselbe, ob sie nun aus Finnland kommen oder aus Guatemala. Alle sind postkolonial, alle haben die Theorien des Siedlungskolonialismus verinnerlicht – die sagen eigentlich alle dasselbe“. Siedlungskolonialismus ist einer der Vorwürfe, mit dem Israel kritisiert wird – eine unzulässige Ausleihe von soziologischem Vokabular, die sich aber global durchgesetzt habe, auch im Kunstbetrieb.
Wir erleben, folgert Bude, also keinen Backlash mit Einschränkungen zuvor erkämpfter Freiheiten, sondern den Niedergang einer Orthodoxie, „das Ende des durchgehenden globalen Kunstsprechs.“ Dem 71-Jährigen zufolge befinden wir uns in einer „Umwälzung“ und in einer „völlig neuen Situation, in der uns diese Begrifflichkeiten überhaupt nicht mehr weiterbringen“. Er sieht weniger einen Backlash als einen neuen Abschnitt im demokratischen Zyklus: „Das ökosoziale Projekt ist in ganz Europa in den letzten Jahren abgewählt worden“.
Die Documenta fifteen markiert für Bude so den Endpunkt einer Entwicklung, „und das ist wirklich interessant, wenn man sieht wie die nächste kuratorische Leiterin versucht, andere Begriffe, andere Begrifflichkeiten zu bedienen“. Hutter dagegen sieht in der Documenta-Debatte einen Vorboten autoritärer Eingriffe in die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, wie man sie gerade in den Vereinigten Staaten beobachten kann und der mit einer Gewöhnung und Abstumpfung durch hochfrequente Übergriffe einhergeht. „Es werden Breschen geschlagen, über manches regt man sich schon gar nicht mehr auf.“ Die Kunstfreiheit sei schon kein Thema mehr, die Zeit des Ausprobierens vorbei.
„Völlig falsch“, entgegnet Bude. Klar wird in der von der Journalistin Saskia Trebing („Monopol“) moderierten Diskussion aber auch: Die eigentliche Kampflinie verläuft nicht zwischen Links und Rechts, sondern um die Frage, wo die Grenze zwischen Israelkritik und Israelfeindlichkeit zu ziehen ist. Dass sich Einstellungen dazu innerhalb der Kunst entlang von Weltregionen und ihren Mentalitäten und Werten beschreiben lassen, dass man also an einen indonesischen Künstler andere Maßstäbe anlegen müsse als an einen aus Kansas oder Mexiko, will Bude nicht gelten lassen, schließlich bewegten sich alle im selben System, dem der bildenden Kunst, und Kunst sei „eine Form des Übersetzens“.
Tatsächlich kennt man diese Strategie mittlerweile sehr gut: das unteilbare kulturelle Eigene und Andere zu behaupten, das keiner von Außen so richtig verstehen könne, und dann doch im Kampf um Deutungshoheit im internationalen, westlichen Kunstbetrieb mitzumischen. Ein Trendbegriff sei gerade der der Opazität, einer bewusst so belassenen Undurchsichtigkeit: „Viele Leute in der Kunstwelt sagen, wir müssen Opazitätskriterien gegenüber von Transparenzkriterien stark machen, damit sich bestimmte Praktiken erhalten können im Sinne eines immateriellen Weltkulturerbes“.
Davon aber hält Bude überhaupt nichts. „Ich glaube, dass wir auch da mittlerweile in einer Sackgasse gelandet sind“. Zwischen den beiden emeritierten Soziologieprofessoren herrscht respektvolle Uneinigkeit. Beide glauben, dass mit Naomi Beckwith eine fähige Kuratorin zur Documenta-Leiterin ernannt wurde – und dass zugleich eine Person allein niemals die Documenta unter Kontrolle haben könnte. Documenta, Documenta, Documenta – die Debatte erweckte den Eindruck, als sei sonst nichts weiter passiert in Sachen Antisemitismus. Doch Heinz Bude erinnert daran, was anders ist seit dem 7. Oktober 2023: „Es gibt offenen Judenhass in Deutschland. Den gibt es, das kann ich Ihnen sagen, und den hat es lange nicht gegeben. Nicht, weil es keine Judenhass-Dispositionen gab, aber die wurden in kommunikativer Latenz gehalten“.
Mit der Latenz war es spätestens im Oktober 2023 vorbei. Der Ton ist insgesamt rauer geworden, und auch darauf bot die Documenta fifteen einen Ausblick. Bude erinnert in diesem Zusammenhang an den in Großbritannien lebenden Documenta-Künstler Hamja Ahsan, der Bundeskanzler Scholz auf Facebook als „neoliberales Faschistenschwein“ bezeichnet hatte. „Das ging mir zu weit. Ich dachte: ‚Was soll der Blödsinn?‘ Ich war richtig erbost darüber.“
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