Der junge Maler begann seinen Weg schwarz-weiß. Füllte Blatt um Blatt mit durcheinander wirbelnden Figurenzeichen, bei denen der Grafitstift derart heftig auf- und abfährt, dass die Dinge wie in Kohlestaub verschüttet aussehen. Lange ist es her: frühe Fünfzigerjahre. „Damals hatte ich die Schriften von André Breton gelesen“, erinnerte sich der greise Arnulf Rainer im Gespräch, „aber ich war völlig ahnungslos, dachte, der Surrealismus sei etwas ganz Gegenwärtiges. Dass er schon dreißig Jahre zurücklag, habe ich tatsächlich nicht gewusst.“ Er hat den Meister in Paris besucht, aber von ihm nur mehr die „reine trotzkistische Lehre“ erfahren. Der Surrealismus war eine Enttäuschung. Wo aber hätte man andocken können, wenn man sich nicht auf die Seite der Abstraktion schlagen und sich nicht zu den Gegenständlichen bekennen wollte?
Es dauerte nicht lange, bis der eigensinnige junge Künstler mit seinen „Übermalungen“ begann, die zum eigentlichen Inhalt und Signum seines Werks werden sollten. Immer wieder hat Arnulf Rainer erzählt, wie er ziemlich mittellos und abgebrannt auf einem Wiener Flohmarkt Bilder für wenig Geld gekauft habe, weil Rahmen und Leinwand zu teurer waren. Und wenn es auch ein wenig Künstlermythos sein mag, dann ist am Lebensdetail doch bedeutsam, dass es offenkundig nicht so leicht war, die banalen Vor- oder Unterlagen mit monochromen Flächen im Stil des abstrakten Expressionismus zu verdecken. Es sei nämlich ein ziemlicher Unterschied gewesen, ob auf dem Flohmarktbild ein Schiff war oder ein Blumenstillleben oder ein Porträt. „Ich konnte nicht einfach drüber malen. Ich musste mich mit dem, was dahinter ist, beschäftigen. So habe ich begonnen, in der Übermalung auf das Übermalte zu reagieren, Kontakt mit den vorhandenen Motiven aufzunehmen.“
Als Übermaler hat Arnulf Rainer eigene Bilder und Bilder von Kollegen und Kolleginnen übermalt, fotografische Selbstporträts, Aktaufnahmen, kunstgeschichtliche Abbildungen, Seiten in alten wissenschaftlichen Büchern, die grotesken „Charakterköpfe“ des spätbarocken Bildhauers Franz Xaver Messerschmidt, „Animalia und Botanika“, die Selbstporträts von van Gogh, Fotos von den Bombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki, Sterbegesichter, Totenmasken – die Serien sind Legion. Was übermalt sein könnte, ist oft nicht zu sehen, ist überdeckt von Strudeln grüner, roter, schwarzer, weißer Farbe. Es gibt im Werk beides, die Übermalung, die nichts verrät, und die Übermalung, die die Vor- oder Grundlage teilweise sichtbar lässt.
In ihren Ursprüngen war die Übermalung auch so etwas wie ein Kommentar zum unversöhnlichen Nachkriegsstreit zwischen den Anhängern der Gegenständlichkeit und den triumphierenden Verfechtern der Abstraktion. Arnulf Rainer fand seinen Weg aus dem künstlerischen Bekenntniszwang der Epoche. In der Übermalung hat sich der Gegenstand nicht in der Abstraktion aufgelöst, er ist erhalten, auch wenn er verschwunden ist. Unsichtbar oder kaum noch sichtbar, hat er sich hinter die monochrom zugemalte Deckfläche zurückgezogen, die ihn dort sein lässt, ihn nicht zersetzt und auch nicht so tut, als sei sie es, die dem zugemalten Sujet überlegen wäre. Übermalung, könnte man sagen, ist eine Art Selbstgespräch des Bildes mit sich selbst.
Mystifikation der Andersartigkeit
So hat es auch nicht ausbleiben können, dass der Maler bald damit experimentiert hat, sich gleichsam selbst zu übermalen. Eher durch Zufall habe er sich im Spiegel beim Zeichnen beobachtet und gesehen, „dass sich die Anstrengung auch bei mir im Gesichtsausdruck niederschlägt. Und so habe ich begonnen, mich grimassierend zu fotografieren und das zu übermalen, das Foto, das mich oft nicht wirklich befriedigt hat, mit malerischen Akzenten zu verändern. Das könnte man schon in gewissem Sinn als gemalte Body art bezeichnen.“
Früh schon hat Rainer im bildhaften Geschehen einen Spiegel lebensgesetzlicher Prozesse gesehen, bei denen die wahren Hintergründe nie ganz durchsichtig sind, aber eben auch nie so unsichtbar, dass ihre Wirkung nicht spürbar wäre. So hat er in der Mystifikation seiner künstlertypischen Andersartigkeit auf das gleichsam Übermalte seiner eigenen Existenz verwiesen. In einer selbst verfassten Chronologie heißt es zum Geburtsjahr 1929: „Es verbleibt eine deutliche Erinnerung an den dunklen, pränatalen Zustand.“ Jetzt ist Arnulf Rainer im Alter von 96 Jahren gestorben.
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