Natürlich kommt das alles nicht hin. Selbst wenn wir gnädig sind und unsere Rechenkünste eher bescheiden. Aber damit wollen wir gar nicht in diese Geschichte starten. Sondern mit dem 31. Dezember 1972. Da lief zum ersten Mal an Silvester ein ausgesprochen angejahrt wirkender Sketch, der 1961 gedreht wurde. 18 minutenlang und schwarz-weiß war er, der Ton mulchig, die Bilder irgendwie verhuscht, was zum Titel passte. „Der 90. Geburtstag“ hieß er. Als „Dinner for One“ ist er Menschen jeglicher Generationskohorte in Deutschland ein Begriff.

Läuft – dem klassischen „Dinner for One“-Satz „Same procedure as every year“ folgend – an Silvester bundesflächendeckend in den Dritten Programmen (Rekord: 2013, da konnte man ihn vor dem Böllerfanal 19 Mal an einem Abend sehen). Jeder weiß, was passiert. Kann den Text (so viel ist es ja nicht). Kennt die Scherze. Und guckt trotzdem. Und weiß eigentlich fast nichts.

Kurz zu dem, was alle wissen. Es ist der 90. Geburtstag von Miss Sophie. Die sitzt in Person der würdigen May Wardon im Herrenhaus am Kopfende ihres großen Tischs. Gedeckt ist für fünf. Vier Stühle sind leer. Es gibt Mulligatawny-Suppe, Schellfisch, Hühnchen und Obst. Dazu wird Sherry, Weißwein, Champagner und Portwein getrunken.

Der Butler James (Freddie Frinton), ungefähr so alt wie Miss Sophie, trägt auf. Und weil die Gäste – Mr. Winterbottom, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy und Sir Toby – allesamt leider nicht mehr erscheinen konnten, muss er trinken, das gehört zum Ritual, was sie trinken würden.

23 Mal rennt er um den Tisch, stolpert über den am Boden liegenden Tigerkopf mit Fell dran. Die Folgen sind bekannt. Am Ende führt er Miss Sophie schwankend und beschwipst in den oberen Stock, fragt noch einmal: „Same procedure as every year“. Die bekräftigt es. Und James fragt, was jeder sagt, wenn er etwas eigentlich vielleicht lieber doch nicht tun möchte: „Must I, Miss Sophie?“

Muss er. Was er muss, haben manche Menschen erst verhältnismäßig spät in ihrem Leben erkannt. Wer – jetzt zu dem, was keiner weiß – die vier Gespenster am Tisch eigentlich waren, war ein wahres Welt-Rätsel. Bis jetzt.

Bis „Miss Sophie“. Das ist eine Amazon-Prime Serie, die ungefähr sechzehnmal so lang dauert wie das „Dinner“ und so bunt ist wie das „Dinner“ schwarz-weiß. Und die – so wunderhübsch sie ist – eigentlich gar nicht hinkommen kann. Miss Sophies Geburtsjahr wäre – gesetzt sie wäre 1972 90 Jahre alt geworden – nämlich 1882 gewesen. „Miss Sophie“ setzt aber mit dem Silvesterabend 1911 ein. Miss Sophie – so will es das herrlich spinnerte Drehbuch von Daniel Rakete und dem Ufa-Comedy-Unit-Chef Tommy Wosch – wird volljährig. Wir schreiben ihren 21. Geburtstag.

Womit sie acht Jahre älter wäre als die Frau, die Freddie Frinton bedient. Jetzt aber Schluss mit der Haarspalterei, wie sie nur dem Erzpreußen Admiral von Schneider eingefallen wäre, einem Mann, dessen Stammbaum sich bis zu Wilhelm dem Schlächter zurückverfolgen lässt und Tancred mit Vornamen heißt. Wissen wir alles von Rakete und Wosch.

Heiraten gegen die Insolvenz

Sophie (Alice von Rittberg) – ein Freigeist, ein wilder Feger und Charmebolzen vor dem Herrn – soll sich endlich einen Mann aussuchen. Was ihr schwerfällt, weil sie ihr Herz an James (Kostja Ullmann) verloren hat. Das ist der Sohn von Butler Mortimer. Eine Liaison, die natürlich – in England gibt es vor dem Großen Krieg noch schärfere Klassenschranken als heute und eine Frau zählt gesellschaftlich und politisch gar nichts – gar nicht geht. Sie werden mehr oder weniger in flagranti erwischt. James muss aufgrund einer fiesen Intrige von Sophies Vater das schöne Herrenhaus bei Eastbourne verlassen.

Sophie darf nicht mit ihren Eltern auf die „Titanic“, was dazu führt, dass sie sieben Jahre und einen Weltkrieg später, allein mit Butler Mortimer (Ulrich Noethen) und Zofe Prudence (Lilly Marie Vogler) im geradezu absurd herrlich ausgestatteten Haus sitzt und so pleite ist, dass sie – eine Jane-Austen‘sche Ausgangssituation – dringend einen der begehrtesten Junggesellen der Welt braucht. Respektive dessen Geld.

Sie schaut sich Karten mit Kandidaten an, wischt weg, wen sie nicht mag. Übrig bleiben fünf (!). Mr. Winterbottom (Frederick Lau), der Immobilienmogul von Nebenan, dem alles peinlich ist und der die Pointen aller Witze kennt. Sir Toby (Jakob Matschenz), einer der reichsten Männer Amerikas, der Ketchup liebt und Lavendel trägt. Admiral von Schneider (Christoph Schechinger), der mies einparkt und gern „Geht runter wie Torpedofett“ sagt.

Mr. Pommeroy (Moritz Bleibtreu) produziert Champagner, trinkt Champagner und reitet samt Pudel und Beiwagenmotorrad ein. Der bislang unbekannte fünfte Bewerber, den Sophie zu einem Bachelorette-Wettbewerb in ihr Schloss einlädt, ist der ungarische Graf Szabos (Vladimir Koneev), der sehr schön, aber auch sehr melancholisch und stolz ist und todtraurig Liszt singen und spielen kann.

Es kommt in Sophies Schloss Bounsmouth, das vom Brandenburger Schloss Stülpe hervorragend gegeben wird, zu absonderlichen Challenges, gegen die alles, was man von der Bachelorette gewöhnt war, harm- und humorlos ist. Gefräßige Schweine kommen vor und ein gallischer Hahn namens MacGuffin betätigt sich als Orakel. Einer von Sophies Matches stirbt eines gewaltsamen Todes. „Miss Sophie“ – so britisch wie die Edgar-Wallace-Filme der Sechziger, aber bunter – atmet plötzlich den Geist von Agatha Christie.

In Potsdams Neuem Palais, das bei „Miss Sophie“ Buckingham Palace sein darf, kommen sich der König und sein Bruder (Wotan Wilke Möhring und sein Bruder Sönke), in die Haare, weil King Edward seine Finger nicht von Charles Frau lassen kann (er kann sie von keiner Frau lassen).

Gelegentlich, aber nicht über Gebühr, wird über den Tiger gestolpert. Unmengen an Sherry fließen. Mafiosi und ein giftiger Geldeintreiber von der Bank verbreiten Schrecken. Die Dialoge sind angenehm durchgedreht. Der Ton ist nahe an der Frivolität gebaut. Die Winkelzüge des Plots (alle verstecken sie mehr oder weniger finstere Geheimnisse unter ihren beneidenswerten Klamotten) sind durchsichtig und überraschend zugleich. Das Tempo würde selbst die 90-jährige Miss Sophie nicht ins Grab bringen.

Alle haben außerdem offensichtlich Spaß an der Klamotte und am Ausspielen von Klischees. Und es wäre trotzdem alles nichts ohne Alicia von Rittberg. Die würde mit ihrem verspielten, verschmitzten Charme den schlimmsten Hagestolz vor den Altar bringen.

Die Serie „Miss Sophie“ läuft ab dem 22. Dezember auf Amazon Prime.

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