Und wieder kann man ihm nicht in die Seele sehen. Dem letzten der wirklich großen Gesellschaftsmaler der Kunstgeschichte, der mehr als 200 Jahre später ganz gegenwärtig an Anthonis van Dyck erinnert: John Singer Sargent (1856–1924). Denn in einem seiner nur drei Selbstbildnisse schaut er ausgerechnet als jugendlicher Durchstarter seltsam nicht fassbar dem Betrachter entgegen.
Das Gesicht bleibt diffus hinter einem bewusst verbergenden Vollbart. Der Blick – die eine Pupille verschwimmt fast mit dem Hintergrund, die andere ist nur ein brauner Knopf – ist irgendwohin gerichtet, vermeidet jede Stimmungsausdeutung und Attitüde-Befindlichkeit, bleibt gänzlich vage. Als ob er, der die Objekte seines Künstlertums für gewöhnlich so präzise mit dem Pinsel einkreiste und ihre Persönlichkeit malend offenlegte, selbst im Dunkel des Vermutens bleiben wollte, sich selbst nicht für abbildenswert hielt.
Dieses penibel verbergende Porträt des 30-Jährigen steht sprechend am Beginn eines Bilderparcours, der doch sehr besonders ist. Im Musée d’Orsay ist unter dem schönen Titel „Éblouir Paris“ (Paris blenden) in Frankreich die erste monografische Ausstellung eines Künstlers zu sehen, der an der Seine gelernt hat, der hier seine ersten Erfolge im Pariser Salon feierte.
Singer Sargent wurde aber auch Gegenstand eines saftigen Society-Skandals, hervorgerufen durch sein heute berühmtestes, im New Yorker Metropolitan Museum gehütete Gemälde von der „Madame X“. Bevor er später nach London und in die Staaten weiterwanderte, um sich endgültig bis zum Ersten Weltkrieg als Chronist der schönen und reichen Welt am Ende einer Ära zu etablieren.
Paradox, dass dieser hier gefeierte Ausstellung so lange gedauert hat, ist doch der enorm wieder wertgeschätzte Singer-Sargent in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem viel gezeigten Publikumsliebling der großen Museen, besonders in der anglophonen Welt avanciert. Allein in London zeigte man 2024 in der Tate Gallery „Singer Sargent und die Mode“ und im Kenwood House seine Bilder amerikanischer Erbinnen, die mit ihrem jungen Geld das Blut des alten britischen Adels wieder kaufkräftig sprudeln ließen.
In Boston versuchte man 2020 sogar, mittels eines im Depot wiedergefundenen Zeichnungenkonvoluts, endlich dingfest zu machen, dass dieser Maler der schönen, in ihrem Reichtum freigiebig zur Schau gestellten, unnahbaren Frauen doch schwul gewesen sei. Den Beweis blieb man – trotz eines vielfach mit feinem Strich sinnlich umkreisten farbigen Modells und glaubhafter Indizien über diese afroamerikanische Muse namens Thomas McKeller – neuerlich schuldig.
Brillanz des Könnens: John Singer Sargent
Aber das ist vielleicht gut so. Denn auch wenn sich jetzt in Paris sehr klarsichtig der Nebel über seinen Anfängen ab 1873 bei dem Modemaler Charles Auguste Émile Durand (genannt Carolus-Duran) wie an der École des Beaux-Arts und seinem französischen Frühwerk lichtet: Singer Sargent, in Florenz geborener Sohn eines wohlhabend durch die Welt nomadisierenden Paars, blieb zeitlebens ein Unbehauster, der sich ungern in die Karten seiner privaten Verhältnisse blicken ließ.
Man weiß viel über die Subjekte seiner 900 Ölgemälde, 2000 Aquarelle sowie unzähliger Skizzen und Kohlezeichnungen, aber wenig über ihn. Im Musée d’Orsay erweist sich bereits der junge John Singer Sargent als ungemein vielseitiger Menschen- wie Tieremaler, als Landschaftsschilderer zwischen Idylle und katastrophischem Meeressturm, als Liebhaber des Exotisch-Orientalischen (in seinem weißgrauen minimalistischen Meisterstück aus Marokko, „Smoke of Ambergris“).
Im Leben wie in der Kunst suchte er die Nähe zu Monet und Manet, ohne je zu imitieren. Bis es mit den großen Porträtaufträgen zu flutschen begann, malte er akademische Modelle nackt, kopierte Franz Hals und Tizian, übte sich an seinen meist männlichen Freunden, in Zeichnungen, Skizzen, mehr oder wenig flüchtig scheinenden, oft aber raffiniert kalkulierten Ölbildern. Immer perfekt ist die Brillanz seines Könnens.
Er zeigt aber auch in drei Bildern ganz unterschiedliche Annäherungsweisen an die Mitglieder der Familie Pailleron – den gelassen blickenden Malerfreund; das auf die sprechenden Hände vor schwarzem Kleiderstoff fokussierte Komplettbild von dessen Frau; die ungemein individuell und ernsthaft gezeigten beiden Kinder. Hier ist stringent zu erforschen, wie sehr sich dieser gar nicht glatte, routinierte Maler um jeweils eigenwillige Zugangsformen für die ihm gegenüberstehenden Individuen mühte.
Was ihm dann ganz besonders in seinem Meisterstück „Madame X“ gelungen ist. Die gerne weißgeschminkt zu ihren hennarot gefärbten Haare in den Belle-Époque-Salons paradierende Gesellschaftsdame Virginie Amélie Avegno Gautreau malte er kühl-erotisch, verlockend offenherzig – trotz der großen Abendrobe. Durch den heruntergefallenen Träger, den er – das Bild wühlte die Bourgeoisie im Salon von 1884 ungemein auf – später wieder korrekt einfügen musste.
Passenderweise hängt im Umfeld dieses mit vielen Skizzen und Rissen hier lustvoll ausführlichst dokumentierten Werkes dessen männliches Pendant: der viel später von Julian Barnes zum Roman verwandelte „Doktor Pozzi“ im unerwartet intimen roten Hausmantel. Dieser Gynäkologe und Schürzenjäger findet sich als Bronzebüste übrigens auch in der als geschickte Themenerweiterung genau nebenan im Orsay gezeigten Ausstellung üben den ähnlich Society-affinen Bildhauer Paul Troubetzkoy (1866–1938).
Dann folgen die großen, berühmten Singer-Sargent-Porträts, die seinen Ruhm begründeten. Und die ihn – anders als etwa seinen glatten, pralinenschachtelbunten Konkurrenten Giovanni Boldini (1842–1931) – autark und stark gegenüber der eigentlich seinen Beruf verdrängenden Fotografie aufblühen lassen. Denn John Singer Sargent bildete eben nicht nur ab, er zeigte selbst im sorgfältigsten Arrangement immer die Imperfektion, das Menschliche seiner Modelle. Er drang tiefer und vielschichtiger in die Persönlichkeiten ein, als sie es eigentlich zugelassen hatten; deswegen sprechen diese Bilder immer noch so beredt zu uns. Egal, ob sie italienische Wäscherinnen verewigen oder amerikanische Bankiersgattinnen.
Interessanterweise steht am Ende dieser hinreißenden Folge aus 90 – überraschungsvollen wie oft gesehenen – Werken das steife, leblose, bisher noch nie öffentlich gezeigte Porträt der Princesse Edmond de Polignac von 1898. Geboren als Winaretta Singer, erbte sie das notorische Nähmaschinenvermögen und wurde als zweimal mit Schwulen verheiratete lesbische Salonnière in Paris zur Förderin Strawinskys, Ravels, Saties und Kurt Weills.
Nur mit John Singer Sargent, da hat es einfach nicht „klick“ gemacht. Hingegen schon mit „La Carmencita“, der Varietétänzerin mit dem gleißend gelben Flamenco-Kostüm als allerletztem, furiosem Bildbeispiel singersargentscher Altmeistermanier.
„John Singer Sargent – Éblouir Paris“, bis 11. Januar 2026, Musée d’Orsay, Paris (Katalog 45 Euro)
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