Als sich zum ersten Mal abzeichnete, dass sich die Vereinigten Staaten in einen totalitären Staat verwandeln könnten, liefen Menschen, Frauen vor allem, mit Plakaten durch die Straßen von Washington. „Make Margaret Atwood fiction again“, stand darauf. 2016 war das.
Sie wollten warnen davor, dass ihr Land werden würde wie Gilead. Jenes Regime, das die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood als literarisches Menetekel für einen antifeministischen Backslash des Patriarchats in ihrem dystopischen Roman „Der Report der Magd“ an die Wand ihrer damaligen Gegenwart gemalt hatte.
1985 hatte sie ihn geschrieben. In Berlin. Zu einer Zeit, die von einer Präsidentschaft Donald Trump nicht mal albträumen konnte. Einer Zeit, in der man schon genau auf die Gegenwart schauen musste, um die Zeichen an der Wand zu erkennen.
Wie sie diesen Blick gelernt hat, wie sie – das kurzsichtige Kind mit der Hornbrille, dem schiefen Zahn, dem Medusenblick und den hexenhaften Haaren – zur vielleicht präzisesten Beobachterin ihrer Zeit werden konnte und mit welchen Folgen, ist eine der Geschichten, die sie in „Book of Lives“ im Nebenbei erzählt. Einem Buch, das Margaret Atwood von der Fiktion befreit, zu einer realen Figur macht, geschichtet aus vielen Ichs. Einem Buch, das sie eigentlich nicht schreiben wollte.
Weil Schriftstellerautobiografien langweilig sind, wie sie sagt. Weil die sich gern am Werk entlang hangeln und nichts von dem erzählen, was Schreiben und Erzählen ausmacht, wie Schreiben sich zum Leben verhält, weil sie versuchen, eine Existenz dingfest zu machen, die es gar nicht gibt. Weil ein Schriftsteller mindestens zwei Leben führt – das wirkliche, das alltägliche und das schreibende, das literarische. Zwei Leben, die sich durchdringen, sich nicht auseinanderhalten lassen. Sagt Margaret Atwood. Die es wissen muss. Die es weiß.
Wie Wirklichkeit Literatur wird
Sie erzählt in „Book of Lives“, das „So etwas wie Memoiren“ untertitelt ist, genau davon. Wie sich Wirklichkeit in Literatur verwandelt (und umgekehrt), davon wie sie wurde, was sie ist. Keine Fiktion. „Make Margaret Atwood real again“ hätte es auch heißen können.
Ein Buch, in das man sich schockverliebt, bevor man es zu lesen angefangen hat. Da sieht man die heute 86-Jährige auf dem Umschlag. Ein wahrscheinlich fabelhaftes rotes Gewand trägt sie mit sorgfältig gefälteltem Kragen. Die Locken sind grau. Ihr Medusenhaupt lächelt verschmitzt, hält sich einen rotbehandschuhten Zeigefinger vor die Lippen. Als ob sie ein Märchen erzählten wollte, von dem niemand was wissen darf.
Geheimnisse, das darf man verraten, weil Margaret Atwood es verrät, gibt es schon. Geheime Leidenschaften zum Beispiel. Abenteuerliche Aberglauben. Und Abgründe. Man sitzt gewissermaßen neben ihr in diesem Buch. Und sie schlendert mit einem durch ihr Leben. Von den Jahren im Wald mit dem Vater, von dem sie den präzisen Blick auf die Welt lernte und der fast mehr Hütten baute als sie Romane schrieb bisher.
Von dem sie das Sehen lernte. Davon erzählt sie. Und wie sie in der Schule den Missbrauch von Macht kennenlernte – und wie man sich dagegen wehrt. Dass man, wenn man die Wahl hat, Held zu werden oder Monster, besser Monster wird. Von sich als Mädchen in der Gripsklasse, das Jahre überspringt. Das – sie ist begabte Puppenspielerin – begreift, dass man alles zum Sprechen bringen kann, sei es einen Ärmel oder einen Salzstreuer.
Ein Mädchen, ein Sonderlingchen mit einem Hang zu Horrorgeschichten, das nach einem Gang über ein Fußballfeld und der Erfindung eines lyrischen Vierzeilers weiß, dass es Schriftstellerin werden will. In einem Land, in dem es das eigentlich gar nicht gab. Dessen Literaturgeschichte sie, in ihrem ersten Bestseller, dem mit „Survival“ überschriebenen Führer durch die kanadische Literatur, als beteiligte Pionierin selbst schreiben musste. Ein Mädchen, dem ihr Vater, der scharfsichtige Entomologe, prophezeit, dass ihr loses Mundwerk ihr noch Ärger einbringen wird.
Man lernt auf der Langstrecke dieses nie langatmigen Buches, das auch eine Welt- und Mentalitätsgeschichte des 20. Jahrhunderts ist, wie sich die vielen Leben eines Schriftstellers gegenseitig bedingen, wie das eine in das andere kragt. Von Rache, vom Versuch, Rechnungen zu begleichen, ist „Book of Lives“ frei. Margaret Atwood schont selbst den Kerl, der sie missbraucht hat, weil er vielleicht (hoffentlich) längst tot ist.
Man lernt Graeme lieben, die Liebe ihres Lebens, der gesagt hat, sie wäre auch ohne ihn die vielleicht größte Schriftstellerin ohne Nobelpreis geworden, hätte aber niemals so viel Spaß unterwegs. Und verabschiedet ihn in die Demenz, in den Tod. „Ich kenne die Namen der Vögel nicht mehr“, lässt sie ihn sagen, „aber die kennen meinen ja auch nicht.“ Eleganz hat das und Witz und Selbstironie und Tiefenschärfe. „Book of Lives“ ist die wahrscheinlich schönste aller Schriftstellerautobiografien.
Margaret Atwood: Book of Lives. So etwas wie Memoiren. Aus dem Engl. v. Helmut Krausser, Beatrice Renauer. Berlin Verlag, 738 Seiten, 36 Euro
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