Natürlich haben Radiohead ihren größten Hitparadenerfolg auch in Berlin nicht gespielt – „Creep“, dieses wunderbare Stück über Entfremdung von der Welt, von Außenseitertum und Distanz zu allem und jedem wurde als zu abgenudelt für die weitere Verwendung befunden und nur noch selten gespielt. Und trotzdem war dieses großartige, erratische Konzert in der Uber Arena in Wahrheit eine zweistündige Aufführung dieser Hymne auf die Weirdness. Selten wurde Unnahbarkeit so souverän und konsequent zelebriert. Creeps überall, auf der Bühne und davor.

In einem kreisrunden Käfig steht die Band in der Mitte der Halle und wird ihn nicht wieder verlassen. Lediglich das Gitter wird nach ein paar Songs angehoben und zur Projektionsfläche für das Bühnengeschehen. Aber selbst dort verweigern sich die Musiker jeder Klarheit, die Bilder sind verzerrt, verzogen, verfärbt, man hat also eher eine grobe Ahnung davon, dass sich da tatsächlich Radiohead durch den beeindruckenden Instrumentenpark arbeiten. Thom Yorke, so kann man erahnen, hat jetzt eine sehr hohe Stirn und trägt das Haar lang. Ansagen, Einführungen, Erklärungen gibt es nicht. Er spricht so wenig, wie er singt, denn seine Stimme ist ja eher ein Instrument als irgendetwas sonst.

Einer Annäherung zwischen den Menschen in der Halle und dem Ufo Radiohead am nächsten kommt das sehr, sehr, sehr lange Vorspiel zum Konzert, als auf das Bühnenrund projizierte Lichtreflexe das Publikum blockweise zum Klatschen animieren – La-Ola im KI-Zeitalter. Fünfundzwanzig Songs spielen Radiohead, ein langes Schreiten durch ihr Lebens- und Gesamtwerk mit einem Fokus auf dem Jahrhundertalbum „OK Computer“ von 1997 und dem nicht minder gelungenen „In Rainbows“ von 2007 über gut zwei Stunden. Und an drei weiteren Abenden in der Arena noch einmal.

Was bei anderen Bands im Reifegrad von Radiohead häufig zu einer Best-of-Nummernrevue wird, verwandelt sich in Berlin allerdings zu einer ganz anderen Art von Erlebnis, zu einer gemeinschaftlichen Meditation mit unterschiedlichen Tempi und Dynamiken. Eigentlich ist es fast so, als hätte die Band nur ein einziges endloses Stück gespielt, eine sinnliche und lustvolle Reise in das persönliche Jammertal von Thom Yorke und seinen Mitstreitern. Am eindringlichsten ist das ab „Weird Fishes“ in der Mitte des Hauptsets, wo die Hypnose-Maschine mit voller Kraft bis zu „Daydreaming“ arbeitet, mit einem unfassbar gelungenen „The National Anthem“ als Höhepunkt. Ein Rausch.

Radiohead verstehen es auf eine einzigartige Weise, hochkomplexe musikalische Strukturen, die eigentlich absolut massenunkompatibel sind, mit einer Melodiösität zu verknüpfen, die jeden einzelnen in einem Publikum erreicht, das so divers ist, wie man es sonst vielleicht nur noch bei Muse sieht: knarzige Prog-Oldtimer neben Hausfrauen-Duos in Kurzhaarfrisuren, Anzugträger und Kiffer, Popper und sehr, sehr viele Nachwuchs-Weirdos. Man denkt: So dumm wie sie uns Social Media vorgaukelt, kann die Welt nicht sein, wenn so eine kluge Musik von viermal rund 17.000 Menschen in Berlin inhaliert wird. Inhaliert wird allerorten übrigens nicht nur Musik, was der allgemeinen Glückseligkeit über diesen wunderbaren Weltschmerz-Abend durchaus zuträglich ist.

Dass es dieses Konzert überhaupt geben kann, ist an sich schon auf zweierlei Art ein Wunder. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass die Band im Hiatus sich noch einmal zusammenfinden würde, vor allem, weil Thom Yorke und Gitarrist Jonny Greenwood mit The Smile bereits eine Art Radiohead 2.0 gegründet hatten. Dann die überraschende Ankündigung der Europatour vor einigen Monaten, ein Glücksmoment, doch schließlich sorgte ein gut gemeintes, aber überkomplexes Ticketing-Lotterie-Modell, das überbordende Preise verhindern sollte, bei vielen für Frust statt Eintrittskarten. Der Schock für die Berliner aber dann vorletzte Woche, als zwei Konzerte in Kopenhagen abgesagt werden mussten, weil der Sänger schwer erkältet war. Gottlob gesundete er schnell.

Nur in ganz wenigen Momenten tasten sich Radiohead aus diesem eleganten Strom heraus und deuten an, dass sie zwar in einer eigenen Kategorie spielen, am Ende aber doch eine Rockband sind, die es auch mal richtig krachen lassen kann. Oder eher könnte. Denn es bleibt bei Andeutungen von Brachialität. Der große Teil des Abends schwebt und lässt schweben. Radiohead sind keine Verbrenner. Sie haben Seele. „Karma Police“ beschließt dementsprechend passend den Abend, und 17.000 Creeps verlassen glückstrunken den Saal.

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