Dass ausgerechnet hier einige der grausamsten Verbrechen eines an Grausamkeiten überreichen Krieges stattfinden, ausgerechnet hier halb- oder schon tote Männer, Frauen, Kinder ins grünlich schimmernde Wasser geworfen werden sollten, ist eine bittere Fortschreibung der Geschichte. Als Ivo Andrić das imposante Bauwerk zur Protagonistin seines Romanes „Die Brücke über die Drina“ (1945) erkor, hatte sie – wenn auch beschädigt – zwei Weltkriege und fast 400 Jahre wechselhafter Geschichte überstanden.

Seither verbindet die Brücke nicht bloß zwei Ufer im ostbosnischen Višegrad, sondern symbolisch auch Orient und Okzident. Doch Symbole sind wirkmächtig, und wer eine Agenda hat, nutzt sie gerne. So wundert es nicht, dass der Autor auch 50 Jahre nach seinem Tod ebenso vereinnahmt wird wie die Brücke, die er beschrieb. Denn Propaganda und Symbolik liegen in Višegrad nah beieinander. Heute in der Republika Srpska gelegen, dem serbischen Landesteil Bosnien-Herzegowinas, zeigt sich hier, wie wirkmächtig die Ideologisierung von Kultur ist.

„Das Werk von Ivo Andrić wird von verschiedenen Seiten instrumentalisiert“, sagt Vahidin Preljević. Der Germanistik-Professor lehrt an der Philosophischen Fakultät in Sarajevo und forscht unter anderem zu Identitätskonstruktionen. Der „massivste Missbrauch“ erfolge jedoch durch den großserbischen Nationalismus. „Das fängt schon damit an, dass Ivo Andrić als serbischer Autor vereinnahmt wird“, sagt der Literaturwissenschaftler. „Dabei hat er sich niemals nur als serbischen Autor ausgegeben.“

Andrić kam 1892 als Kind kroatisch-katholischer Eltern im österreich-ungarischen Dolac bei Travnik, heute Bosnien-Herzegowina, zur Welt, wuchs im damals mehrheitlich muslimischen Višegrad auf und lebte später lange in der jugoslawischen Hauptstadt Belgrad, wo er 1975 auch starb – ein jugoslawischer Lebenslauf, teils bevor es Jugoslawien als Staat gab. „Wenn man bei ihm von einer nationalen Orientierung sprechen will“, fährt Preljević fort, „dann ist das auf jeden Fall der Jugoslawismus.“

In seinem Roman beschreibt Andrić das Zusammenleben verschiedener Kulturen in der Stadt seiner Kindheit – unter wechselnder Herrschaft und über Jahrhunderte hinweg. Doch von dem Višegrad aus Andrićs Jugend ist nicht viel geblieben. Lebten dort vor dem Bosnienkrieg (1992–1995) rund zwei Drittel muslimische Bosniaken gemeinsam mit einem Drittel Serben, ist heute nur noch ein Bruchteil der Bevölkerung muslimisch.

Mit der serbischen Übernahme Višegrads begann 1992 eine der, wie es der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag formulieren sollte, „umfassendsten und rücksichtslosesten ethnischen Säuberungskampagnen im Bosnienkonflikt“. Tausende Menschen, hauptsächlich Muslime, wurden vertrieben, gefoltert, vergewaltigt und brutal ermordet. Ausgerechnet die bekannte Drina-Brücke – offiziell Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke, benannt nach ihrem Stifter, einem osmanischen Wesir – war Schauplatz zahlreicher Morde.

Angesichts dieser Vergangenheit überrascht es, wie wenig heute an die multiethnische Vergangenheit und die Gräuel des Krieges erinnert. Serbische Flaggen und Parolen dominieren das Stadtbild. Ein großflächiges Graffito an der Hauptstraße raunt von der Rückkehr der serbischen Armee in den Kosovo, die seit 2008 unabhängige ehemalige autonome Region Jugoslawiens, die bis dato jedoch nur von 118 der 193 UN-Mitgliedsstaaten anerkannt wird.

An anderer Stelle sind die Embleme von EU und Nato durchgestrichen. Und unweit der Brücke hängt, Wochen nachdem ein nationales Gericht ihn in zweiter Instanz verurteilt hat, ein Plakat, das den bosnischen Serbenführer Milorad Dodik inmitten einer Menschenmenge zeigt. Darunter steht: „Wenn das Volk glaubt, fallen Urteile. Wird Dodik gewinnen, wird die serbische Republik gewinnen.“

Am 1. August hatte die Berufungskammer des Obersten Gerichts von Bosnien und Herzegowina ein Urteil aus dem Februar bestätigt. Dodik war damals nach einer zweijährigen Gerichtsverhandlung zu einem Jahr Haft und einem sechsjährigen Verbot der politischen Betätigung verurteilt worden. Das Gericht hatte Dodik schuldig gesprochen, Entscheidungen des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft ignoriert zu haben.

Das Amt, das seit 2021vom ehemaligen deutschen Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) bekleidet wird, war 1995 von der UN geschaffen worden, um die Einhaltung ziviler Aspekte des Dayton-Abkommens zu überwachen, mit dem der Bosnienkrieg zu Ende ging und das Land in zwei Entitäten aufgeteilt wurde. Schmidt hatte ein Gesetz der Republika Srbska kassiert, das seine Entscheidungen im serbischen Landesteil für nichtig erklärte und einen Verstoß dagegen unter Strafe gestellt.

Das Gefängnis bleibt Dodik nun zwar erspart. Gewonnen hat er aber bei Weitem nicht. Trotz Rückendeckung aus Serbien, Ungarn und Russland muss Dodik, der noch im März in Moskau Wladimir Putin als „historischen Anführer des russischen Volks“ pries, sein Amt aufgeben. Am 23. November wählen die Einwohner der Republika Srpska einen neuen Präsidenten. Doch die Saat, die Dodik und seine Getreuen seit Jahren gepflanzt haben, geht auf. Kultur und Sprache gehören dabei zu ihren wichtigsten Werkzeugen, weil sie auf ein wesentliches Merkmal der Menschen abzielen: ihre Identität.

„Es ist letztlich dasselbe Ziel wie in den Neunzigern“, konstatiert der Literaturwissenschaftler Preljević, „nur dass es nicht mehr mit militärischen, sondern mit kulturpolitischen Mitteln versucht wird.“ Pro-serbische Politiker versuchten, „alle abweichenden Merkmale einer bosnisch-serbischen Identität zu eliminieren“. Das fange bei der Sprache und kulturellen Gepflogenheiten an. „Über diese kulturelle Schiene soll die Identifikation mit Bosnien gekappt und auf Serbien selbst übertragen werden“, schlussfolgert der Wissenschaftler.

In diesem Kontext sind auch die Vereinnahmungsversuche, die Ivo Andrić und sein Werk über sich ergehen lassen müssen, zu verstehen. Weitgehend unbestritten gilt Andrić als feste Größe und Autorität. Entsprechend beriefen sich serbische Politiker gerne auf ihn. Dabei, so Preljević, rissen sie Zitate aus Andrićs oft historisch situierten Erzählungen aus dem Kontext: „Was eine Figur sagt, wird dann mit Andrić gleichgesetzt, als geschichtliche Tatsache eingestuft und damit die eigene Position pseudolegitimiert.“

Nationalisten drohen mit Enteignung

Zu sehen ist das auch in Višegrad. Dort ist Andrić nicht bloß Namensgeber einer Straße, sondern gleich eines ganzen Stadtteils: Andrićgrad. Steht man auf der Drina-Brücke, sieht man am Abend die prachtvoll illuminierten Gebäude, welche der Regisseur Emir Kusturica als Filmkulisse für und Hommage an „Die Brücke über die Drina“ hat errichten lassen – mit kräftiger Unterstützung Dodiks und auf dem Gelände eines ehemaligen Internierungslagers im Bosnienkrieg. Daran erinnert freilich nichts, Besucher wandeln unbelastet von der nahen Kriegsvergangenheit durch eine Mischung aus Fantasie-Geschichte und künstlerischer Vision. Ziel und Endpunkt ist eine serbisch-orthodoxe Kirche.

Wandbilder, Denkmäler und zahlreiche Souvenirs ziert das Antlitz Ivo Andrićs in Višegrad. Doch so offensichtlich die mannigfache Bezugnahme auf den literarischen Übervater ist, so sehr fällt auf, was der Stadt fehlt: ein Museum als zentraler Gedenkort. In dem Gebäude, in dem der spätere Schriftsteller seine ersten Buchstaben gelernt haben soll, gibt es zwar einen historisch eingerichteten Klassenraum. Der ist aber sehr übersichtlich und hält laut Aufseher lediglich drei Originale bereit: ein Bild Kaiser Franz Josephs, ein Fotos Andrićs und ihn, den Aufseher, selbst.

Das Haus, in dem Andrić aufgewachsen ist, steht rund 500 Meter von der Drina-Brücke entfernt in zweiter Reihe zum Fluss. Die hölzernen Rollläden sind heruntergelassen, lediglich eine Plakette an der terrakottafarbenen Fassade erinnert an den berühmten Bewohner früherer Zeiten. Vor Jahrzehnten verkaufte die Stadt das Haus. Wie so viele muslimische Familien mussten die Besitzer 1992 fliehen, Stadt und Land verlassen.

Dass ausgerechnet dieses Gebäude einer bosnisch-muslimischen Familie gehört, statt in erprobter Manier Andrić zu huldigen, ist für manche offenbar ein Sakrileg. Entsprechend drohen serbisch-nationalistische Akteure immer wieder öffentlichkeitswirksam mit Enteignung. Taten sind den großtuerischen Ankündigungen bislang nicht gefolgt; doch solange der Status quo mit leicht verfügbarer Empörung einhergeht, kommt er vielleicht auch gar nicht allzu ungelegen.

Sprache, Gedenken und Kultur sind Bausteine eines jahrelangen Kulturkampfes im serbischen Landesteil Bosniens. Und der zeitigt konkrete Folgen: „Wenn man sich nicht mit dem Land identifiziert, in dem man lebt, tritt ein Entfremdungsprozess ein, der zu Auswanderung motiviert“, sagt Vahidin Preljević. Das wiederum schwäche Gesellschaft und Staat insgesamt – sehr zur Freude von serbisch-nationalistischen Politikern, die von einer Abspaltung der Republika Srpska von Bosnien und einer Vereinigung mit Serbien träumen.

Bei den Feierlichkeiten anlässlich des Literaturnobelpreises 1961 würdigte ein Mitglied der Schwedischen Akademie der Wissenschaften gleichermaßen das Verbindende Andrićs als Person wie dasjenige seines wichtigsten Werks: „So wie die Brücke über die Drina Ost und West miteinander verband, so hat auch Ihre Arbeit als Bindeglied gewirkt und die Kultur Ihres Landes mit der anderer Teile unseres Planeten verbunden“.

Heute schiene es wünschenswert, würden Werk und Autor ebenjene Wirkung nach innen entfalten. Denn während das Wasser der Drina beständig um die mächtigen Pfeiler der steinernen Brücke fließt, ungerührt von allen Tragödien und Machtkämpfen an den Ufern, versuchen einige, ihr symbolisches Fundament zu untergraben und sie für ihre Zwecke zu vereinnahmen.

Wenn man aus Andrićs Werk etwas lernen wolle, meint der Literaturprofessor Vahidin Preljević, dann sei es „ein sehr sensibles Gespür für die Komplexität und zum Teil die Sinnlosigkeit der Geschichte“. Dass Ivo Andrić, dem einzigen jugoslawischen Nobelpreisträger, die nationalistischen Parolen und Spaltungsaufrufe gefallen hätten, darf bezweifelt werden. Über die Schrecken des Kriegsjahres 1914 heißt es in „Die Brücke über die Drina“ ebenso resigniert wie vorausschauend: „Denn vergäße man sie nicht, wie könnten sie sich dann wiederholen?“

Ob Plakate wie das von Dodik auch nach der Wahl im November neben der Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke in Višegrad hängen, ob Kultur und Erinnerung weiterhin zugunsten einer proserbischen Doktrin instrumentalisiert werden, ist nicht abzusehen. Doch einiges spricht dafür. Dabei könnten Geschichte und Gegenwart trefflich als Mahnung gelten, auch über Bosnien-Herzegowina hinaus. Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß schreibt in seinem Nachwort zu Andrićs Klassiker: „Was an dieser Brücke misslingt, kann überall misslingen, wo zwei Welten aufeinandertreffen; was hier gelingt, gibt Hoffnung auch für anderswo.“

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