Die Tage verbrennen: 71. 34. 4. 15. 62. 40. Die Zahlen auf der schwarzen, rechteckigen Anzeigetafel sind blass und weiß, doch alle paar Sekunden, in regelmäßigem Abstand, leuchtet eine von ihnen bernsteinfarben auf. Man hat genügend Zeit darüber nachzudenken, warum es gerade diese ist und wartet auf die nächste Fügung des Schicksals. Am linken Rand der Tafel formt eine Säule aus roten Buchstaben das Wort BINGO.
Aber die Maschine weiß nicht, ob jemand gewonnen hat, das wissen nur die Spieler, die hier abwesend sind. Jemand lässt den Stift fallen und schreit, keiner freut sich über einen kleinen Gewinn, die Aufmerksamkeit, das Gefühl, aus dem Chaos der Welt einen Funken Glück herausgeschlagen zu haben. Die Bingomaschine ist Teil der ersten Retrospektive, die der amerikanischen Künstlerin Lutz Bacher (1943–2019) gewidmet ist.
Bacher ist die berühmteste Unbekannte der Gegenwartskunst, ein „Artists’ Artist“ mit viel Einfluss auf andere Künstler. Solveig Øvstebo hat die Schau für das Astrup Fearnley Museum in Oslo konzipiert, im März wandert sie nach Brüssel ins Wiels Zentrum für zeitgenössische Kunst; bleibt also in Europa. Es ist schwierig geworden, sperrige Kunst in Amerika zu zeigen. Dabei kann man Lutz Bacher durchaus als erzamerikanische Künstlerin begreifen.
Kleine Veränderungen sind entscheidend
Bingo ist Teil des amerikanischen Alltags und ein sehr soziales Spiel. Doch in Bachers Kunstwerk „Bingo (Or the Year I Was Born)“ ist die Tafel auf sich zurückgeworfen. Die Zahlen leuchten stumm und ohne Resonanz in die Unendlichkeit hinein. Bacher hat den Automaten gefunden (oder gezielt gesucht) und zum Kunstwerk erklärt. Sie hat ihn sich angeeignet, wie man in der Sprache der Kunstwelt sagen würde. Die Veränderungen sind klein, aber entscheidend.
Normalerweise sieht man die Steuerelemente nicht, die den Zufallsgenerator mit der Bingoanzeigetafel verbinden, hier liegen ihre Schaltkreise hinter Plexiglas. Man sieht also, was die Zahlen generiert, aber das ändert nichts an der Faszination des Zufalls. Unwillkürlich beginnt man in den hellen, von Beton und Glas geprägten Räumen des Museums stille Vorhersagen zu machen – wird als Nächstes eine zweistellige Zahl kommen, eine gerade, eine von der vorigen weit entfernte? Und man denkt daran, wie unvorhersehbar doch viele Dinge im Leben sind, wie sehr der Mensch von Zufällen, von Glück abhängt.
Unweit des Apparats sind zwei männliche Schaufensterpuppen arrangiert, die offensichtlich auch schon lange aussortiert sind und die jetzt ein blasiertes schwules Traumpaar bilden („Boyfriends“, 2006). Gegenüber ist die ganze Wand mit vergrößerten Seiten aus einem Handbuch zur Reparatur und Pflege von Feuerwaffen behängt. „Firearms“ von 2019 ist ihr letztes Werk, fertiggestellt am Tag bevor sie einen Herzinfarkt erlitt und starb. Und dann ist da eine riesige Jeans von Levi’s, gefüllt mit Styroporkugeln.
Waffen, Sex, Glücksspiel, Schicksal, massive Körper, Freiheit und Tod, sogar Lee Harvey Oswalds Vernehmungsprotokolle tauchen auf. Lutz Bachers Werk ist voller Americana. Es sind nicht die hochpolierten Oberflächen eines Jeff Koons, sondern der rührenden Artefakte, die man in Secondhand-Läden auf dem Land findet. Es sind die düsteren eher als die hellen Stellen.
Die Künstlerin, deren Familienname tatsächlich Bacher war, lebte zuletzt in Berkeley, Kalifornien. Verheiratet war sie mit einem Astrophysiker namens Donald C. Backer – daher wohl das Pseudonym. Ihr erstes Werk entstand vor fünfzig Jahren, 1975, zunächst widmete sie sich der Fotografie, stellte in New York aus, verweigerte sich aber jeder biografischen Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb; erst gegen Ende ihres Lebens häuften sich die wichtigen Ausstellungen.
„Das Jahr, in dem ich geboren wurde“ lautet der erweiterte Titel von „Bingo“. Ist das Jahr, in dem man geboren wurde, eine Art Losnummer? Oder bezieht es sich auf die Anzeigetafel, die dann vielleicht von 1943 wäre, dem Geburtsjahr der Künstlerin? Man denkt an das Spiel Bingo, das so amerikanisch und working class ist, das Roulette der kleinen Leute. Alles das klebt an dem aus Stahl, Aluminium, Glühbirnen und Kunststoff gefertigten Apparat, all die Schicksalsschläge und Hoffnungen, die in so vielen amerikanischen Filmen eine Rolle spielen und die Richtung dieses großen Landes vorgeben.
Lutz Bacher: „Kein Innehalten, kein Zurück“
Bacher buchstabiert die Dinge nie bis zum Ende aus, sie wehen einen an, wenn man davorsteht. Die erschöpfende Selbstauskunft, die einen Großteil der Kunst heutzutage kennzeichnet (wo kommt man her, was hat einen beeinflusst, auf welchen Film oder Roman bezieht sich welcher Pinselstrich), wird von ihr konsequent verweigert. Sogar die Autorschaft selbst ist zweifelhaft – es gibt im Werk keine einheitliche Handschrift, keine Signatur. „Ihre Methode“, schrieb das Kunstmagazin „ArtReview“, „besteht darin, ständig die Gestalt zu wechseln, ihre eigene Handschrift zu verweigern und sich wie Rauch zu verflüchtigen“.
Auch deshalb wohl zog es Bacher zu Figuren hin, die ebenfalls Flüchtende sind. Eine Folge von Bildern des Paparazzos Ron Galella zeigt Jacqueline Kennedy Onassis. Galella lauerte ihr in New York auf, wo sie in Jeans und T-Shirt durch den Park spazierte. Bacher reproduzierte Fotos und Kommentare 1989 in der Arbeit „Jackie & Me“. Der Paparazzo interpretiert Jackies Verhalten als Spiel – sie informiert den Secret-Service-Agenten, läuft dann davon und lässt sich bewusst verfolgen, behauptet er. „Jackie Kennedy Onassis, die begehrteste Frau der Welt, wollte von mir verfolgt werden – von mir, Ron Galella, dem Paparazzo. Mir war schon damals klar, dass es kein Innehalten geben konnte, kein Zurück.“
Alles ist eine Erzählung, die die Wirklichkeit rahmt. Was bleibt, sind Schatten, körnige Fotokopien von Fotos, ein Gefühl von Paranoia. Das Tolle ist: man muss fast nichts über Lutz Bacher wissen, um ihre Kunst zu rezipieren. Die Werke sind enigmatisch, aber von einer dichten und zugleich offenen Psychologie. In einem kleineren Saal stehen Figuren in Gestalt von Bisons, die Bacher ebenfalls appropriiert hat („Bison“, 2012). Es ist nicht bekannt, zu welchem Zweck sie dienten. Auf einem Gerüst aus Holzlatten und Hühnerdraht wurden ihre Köpfe und Schultern mit Pappmachée geformt und dann bemalt. Für Filmrequisiten sind sie zu unvollständig, für ein avantgardistisches Kunstwerk aus dem 20. Jahrhundert zu illustrativ.
Gerade weil der Zweck nicht genau bekannt ist, begreift man sie als Zeugnisse einer bestimmten Zeit und Kultur. Man denkt an Westernfilme, an Schießübungen und an die Kuriositäten, die Amerika als Selfmade- und Selftaught-Land ohne zentralisierte Kulturoberzentrale hervorbringt. „Men at War“ von 1975 zeigt Schwarz-Weiß-Fotos von Soldaten, halb nackt in der Sonne lungernd, in jenem ewigen Wartezustand, aus dem Kriege bestehen und der der Ausstellung ihren Titel gab: „Burning the Days“, also Zeit verbrennen.
Ist das eine Kritik am Krieg, an Männlichkeit? Und warum trägt einer dieser schlaksigen Jungs ein Hakenkreuz auf dem Arm und dazu eine Matrosenmütze? Sind die überhaupt martialisch genug, um als Sinnbild für Krieger zu gelten? Als Bacher Mitte der 1970er-Jahre die Fotoserie „Men at War“ schuf, war ihr Geschlecht nicht öffentlich bekannt. Dass sich dahinter eine Frau verbergen könnte, war keineswegs naheliegend. Es ist eine andere Form von Spiel als das mit dem Wechsel des Geschlechts, der öffentlich vollzogen wird; ihre Identität als Frau wird nicht verleugnet, man wird nur auf die falsche Fährte geführt.
Alles ist brüchig, alles wird von der Seite gesehen, im Vorüberfahren sozusagen. Dass es immer schon existierende Objekte sind, die Bacher aus dem Gewebe der Welt herausgreift, macht die Sache nicht beliebig. Sie lässt einen berühmten Pin-up-Maler für sie noch einmal die drallen makellosen Schönheiten des Eisenhower-Amerika pinseln, sie besorgt sich die Filmkopien des Disney-Films „Snow White“, die jetzt als Blechbüchsen mit Adressaufkleber auf dem Betonboden stehen wie Fundstücke einer untergegangenen Welt. Dazu wabern Klänge einer elektrischen Orgel durch die Räume, die sie scheinbar durchbohren und mittels eines Computers die Tasten bedienen.
„Burning the Days“ ist die erste postume Retrospektive eines einflussreichen Phantoms – und eine Ausstellung, die mit ihrer gelassenen Präzision Maßstäbe setzt.
„Lutz Bacher. Burning the Days“, bis 4. Januar 2026, Astrup Fearnley Museum, Oslo
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