Jürgen Miermeisters Film „Uwe Johnson. Odyssee, Tod, Heimkehr“ (1992) zeigt eine Archiv-Aufnahme: Helles Jackett, sonst in Schwarz, nestelt der Schriftsteller an seiner Pfeife und spricht, ein Jahr vor seinem Tod 1984, über die Gewalt der Geschichte, die „einen aus der Heimat versetzt in eine Fremde und von da aus in eine noch größere Fremde“. Genau das hatte er 1959 erlitten, durch die Unmöglichkeit, sein Schreiben in der Heimat zu betreiben. Während des Studiums in Leipzig hatte der 1934 im heutigen Kamień Pomorski (Polen) Geborene dem Germanisten Hans Mayer sein „Ingrid Babendererde“-Manuskript gezeigt.

Der war begeistert, doch ein Buch über die Republikflucht von positiv gezeichnetem Romanpersonal sei in der DDR nicht zu verlegen. Johnsons Erstling erschien erst 1985 in der Bundesrepublik im Suhrkamp Verlag. Bereits 1959 wurden hier, Johnson war nach West-Berlin gegangen, seine „Mutmaßungen über Jakob“ veröffentlicht. Der komplexe Roman mit eigenwilliger Interpunktion ließ Günter Grass witzeln, er habe sein Exemplar dadurch lesbar gemacht, indem er fehlende Satzzeichen mit Bleistift ergänzte. Kritiker krönten Johnson zum „Dichter der beiden Deutschland“. Zu dessen Leid: Als seine „Zwei Ansichten“ ihn 1965 abermals mit diesem Ehrentitel konfrontierten, sagte er, habe er Berlin verlassen.

Das Buch ohne Gattungsbezeichnung handelt von dem „jungen Herrn B.“ und „der D.“, beide um die 20, die sich kurz vor dem Mauerbau begegnen: „eine Liebschaft, eine Bändelei, eine Woche, ein Verhältnis, ein Anfang, sie wusste das Wort nicht“. Es erzählt abwechselnd vom Fotografen aus einer norddeutschen Kleinstadt und der Krankenschwester aus Ost-Berlin. Unsicher, ob es B. dorthin zieht, um der Frau, zu der er von Liebe gesprochen hat, nah zu sein. Oder ob es die Aussicht ist, Geschichte im verkäuflichen Bild festzuhalten. Kinder etwa, die  „Ostflüchtling und Ostgrenzer“ spielen. Während B. mit der Kamera durch den Westen der Stadt zieht, der D. untreu, zechend, schmuggelt sie Medikamente in die DDR.

Aber „durch Gerüchte erfuhr die D. ihre Lage zuverlässiger als aus den Zeitungen ihres Staates. Fasslicher noch als eine Rundfunkstimme aus der Weststadt trug ein Blickwechsel zwischen Tür und Angel der Schwesternzimmer die Veränderung der Grenze nach“. Die Falle schnappt am 13. August 1963 zu. B., den sein Gewissen plagt, trifft in seiner Stammkneipe nach langer Suche Studenten, die D. in den Westen bringen. Ein Happy End? Vielleicht. B.’s Heiratsantrag will D. überdenken.

Johnsons Verlobte war auf dem gleichen Weg, über Kopenhagen, in den Westen geflohen. „Zwei Ansichten“ ist auch ein Denkmal für die mutigen Fluchthelfer in der Zeit direkt nach dem Mauerbau. Als verloren galten lange Zeit die Aufnahmen der Gespräche, die Johnson ab 1963 zu Recherchezwecken mit Detlev Girrmann, Bodo Köhler und Dieter Thieme von der West-Berliner studentischen Fluchthilfegruppe „Unternehmen Reisebüro“ führte. 2010 erschienen Transkriptionen der Interviews im Band „Ich wollte keine Frage ausgelassen haben“ bei Suhrkamp. Ihn sollte man, liest man die „Zwei Ansichten“ heute wieder, zur Hand haben. Nicht nur am 9. November.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke