Jeton Neziraj ist nicht schwer zu finden. Der bekannteste Dramatiker des Kosovo steht im Foyer des Theaters von Prizren und schenkt Rakija aus. Gastfreundschaft ist wichtig im Balkan, und weil der scharfe Obstbrand überall in der Region getrunken wird, traut man dem Getränk fast eine völkerverbindende Kraft zu. Man wünschte sich jedenfalls, es wäre so einfach. Die Wahrheit ist, dass es auch über 25 Jahre nach dem Ende des Kosovokriegs gar nicht einfach mit der Völkerfreundschaft ist. Und Theatermacher wie Neziraj sind mit politischen Missständen und nationalistischer Borniertheit konfrontiert.
Prizren, gelegen in den südlichen Hügeln des Landes nahe der albanischen Grenze, ist ein gutes Beispiel für die Situation im Kosovo. Einst galt die Stadt mit der alten Moschee neben dem kleinen Fluss mit der Steinbrücke, bei der man an „Die Brücke über die Drina“ des Literaturnobelpreisträgers Ivo Andrić denken muss, als multikulturelles Zentrum der Region mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen und religiösen Bräuchen. Heute leben hier vorrangig Albaner, man hört den Muezzin zum Gebet rufen. Neben den Straßenhunden fallen viele Denkmäler für die UÇK-Helden auf, auch eins für die Nato.
Ab 1998 tobten auch um Prizren heftige Kämpfe zwischen der kosovarischen Miliz UÇK und den serbischen und jugoslawischen Einheiten. Immer wieder kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung, mit insgesamt 10.300 Toten, wie der kosovarische Historiker Shkëlzen Gashi von der Universität Pristina erforscht hat. Meist traf es Albaner wie im nahegelegenen Gjakova. Dort hat eine Frau aus ihrer Wohnung ein Museum gemacht, nachdem ihr Mann und ihre Söhne von der serbischen Polizei verschleppt wurden. Bis heute wartet sie bei einigen noch immer auf die Überreste. Und die Bestrafung der Täter.
Apartheid und Gewalt
Auch 1200 Serben und sonstige Bevölkerungsgruppen wie Roma wurden laut Gashis Untersuchung Opfer von Massakern. So erinnerte sich ein Soldat der Bundeswehr, die 1999 im Rahmen der KFOR-Mission in Prizren einrückte, an brennende Häuser und durchgeschnittene Kehlen im Serbenviertel. Fünf Jahre später kam es wieder zu pogromartigen Gewalttaten durch Tausende Albaner, Kirchen und Klöster wurden zerstört. Dass die KFOR-Truppen, darunter auch die Bundeswehr, nicht eingriffen, sorgte damals für Kritik. Seit diesen Tagen leben jedenfalls kaum noch ethnische oder religiöse Minderheiten in Prizren.
Es ist nicht zu verlangen, dass das Theater die Wunden der Gewalt heilen könnte. Aber vielleicht kann es in Erinnerung rufen, dass es Wege aus der Gewalt gibt. Inspiration hat Neziraj mit seinem neuesten Stück „Under the Shade of a Tree I Sat and Wept“ in Südafrika gefunden – und in der Geschichte des Kosovo. Es geht um die Wahrheits- und Versöhnungskommission nach der Apartheid in Südafrika und eine Kampagne gegen Blutfehden unter albanischen Familien aus dem Jahre 1990. Zwei Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit, Gewalt einzuhegen. Und auch zwei Beispiele für die Zukunft?
An diesem Abend stehen Schauspieler aus Südafrika und dem Kosovo auf der Bühne, es wird Albanisch, Zulu und Englisch gesprochen. Und je länger das Stück geht, desto mehr möchte man glauben, dass es außer Rakija noch ernsthafte Wege zu einer Versöhnung geben kann. Ein visionärer Theaterabend. Bei der Premiere sei leider zweimal der Strom ausgefallen, erzählt der Direktor des beteiligten südafrikanischen Market Theatre, Greg Homann. Das Stromnetz im Kosovo gilt als chaotisch und instabil, doch dieses Mal geht alles glatt. Anfang nächsten Jahres wird das Stück in Johannesburg gezeigt. Wie man dort wohl die These auffasst, die Kosovo-Albaner seien die Schwarzen des Balkans?
Neziraj, der wie auch bei „Under the Shade of a Tree I Sat and Wept“ oft mit seiner Frau Blerta Neziraj als Regisseurin arbeitet, legt mit seinen dokumentarischen Stücken zielsicher den Finger in die Wunden des Landes, das sich 2008 für unabhängig erklärte und inzwischen offiziell eine EU-Mitgliedschaft anstrebt, obwohl nicht alle EU-Staaten den Kosovo anerkennen. Widerstände? Kennt Neziraj. Zweimal wurde sein Stück „Six Against Turkey“ in Prizren abgesagt, erzählt er. Darin geht es um einen politischen Skandal: eine Entführung durch den türkischen Geheimdienst. Die Türkei begreift sich als Schutzmacht des Kosovo, in Prizren liegt das Konsulat in Sichtweite des Theaters.
In der Nähe liegt auch das Gefängnis von Prizren. Uniformierte Wärter öffnen die Stahltür zum Hof, wo das Stück „Do It or Die“ über albanische politische Gefangene in Jugoslawien aufgeführt wird. Die meisten, so erfährt man, waren tapfere Kämpfer für ein vereinigtes Albanien. Auch hier klingt das stark nach Apartheid. Nur wie belastbar ist die Analogie wirklich? Auf den Monobloc-Plastikstühlen im Publikum sitzt auch eine Zeitzeugin, die in einer Szene nach vorn gebeten wird. Was an Quälerei geschildert wurde, wird nochmals beglaubigt: Dokumentartheater zum Anfassen. Und mit Pathos, sodass es fast wie eine theatrale Entsprechung zu den Heldendenkmälern wirkt.
Auf dem Weg von Prizren in die Hauptstadt Pristina fährt man an unzähligen Billighotels und Autowerkstätten vorbei. Außerdem an vielen architektonischen Kuriositäten, die wie eine übertriebene Version eines westdeutschen Industriegebiets der 1980er-Jahre aussehen, dazwischen Bauruinen und Halbfertiges. Am Stadtrand sieht man Gebäude, die wie eine Mischung aus Kitschpalast und Turnhalle mit riesigem Parkplatz ausschauen und sich als Hochzeitshallen erweisen. Man muss an die Plakate am Flughafen denken, die vor Gefahren durch Schusswaffen bei Familienfeiern warnen.
Wilder Bauboom
Pristina selbst scheint ein Synonym für einen wilden Bauboom zu sein. Überall werden ganze Blöcke hochgezogen, viele Stockwerke hoch. Man hat den Eindruck, dass es oft nach viel ausschauen soll, aber billig gemacht ist. Stadtplanung scheint es ebenso wenig zu geben wie Mut zur Lücke oder für Ruhezonen. Erst in der Innenstadt, mit den großzügigen und begrünten Straßenachsen, der berühmten Nationalbibliothek oder dem imposanten Palast der Jugend und des Sports, findet das Auge ein wenig Entspannung vom in Beton gegossenen Durcheinander und dem alles verstopfenden Autoverkehr.
„Die Baumafia kontrolliert das Land“, heißt es in dem Stück „Prishtina. The Premeditated Killing of a Dream“. Text und Regie sind von Jeton und Blerta Neziraj. Es geht um Rexhep Luci, einen Utopisten und Stadtplaner, der vor 25 Jahren in Pristina vor seiner Haustür ermordet wurde. Seine Tochter Njomza Luci, damals eine Jugendliche, hat für das Stück die Kostüme gemacht. Luci sei wie Doktor Stockmann aus Henrik Ibsens „Ein Volkfeind“ gewesen, heißt es im Stück. Einer, der vor der Vergiftung der Stadt warnte, aber den Interessen im Weg stand und geopfert wurde. Nun werde unkontrolliert gebaut, oft ohne Genehmigung, dafür mit korrupten Methoden. Von der in den Feuilletons bejubelten Wanderausstellung Manifesta vor drei Jahren ist wohl auch nichts Nachhaltiges geblieben, so hört man.
Von Pristina geht es weiter nach Skopje, ins benachbarte Nordmazedonien. Auf großen Werbetafeln lächelt einem der Fußballer Granit Xhaka entgegen, der Werbung für einen Energy-Drink macht – mit einem roten Adler als Maskottchen. Skopje ist architektonisch auch eine wilde Mischung: aus sozialistischem Brutalismus, der nach dem zerstörerischen Erdbeben von 1963 entstanden ist, aus kapitalistischem Brutalismus, der seit den 1990er-Jahren Einzug gehalten hat, und aus aufgeblasenem Antikenkitsch, der in den 2010er-Jahren gebaut wurde. Bestes Beispiel: ein Themenpark zum Nationalhelden Alexander der Große, vor dem eine riesige Statue zwischen Fassaden mit „For Rent“ und Coca-Cola steht.
Und dann gibt es noch das alte Basarviertel mit den engen Gassen und den vielen Minaretten. Man kann sich vorstellen, wie hier einst fremdartige Gewürze verkauft wurden – heute herrschen Fake-Gucci und Plastikschrott vor. In Skopje hat man trotzdem das Gefühl, noch etwas von dem Balkan und seiner Vielfalt mitzubekommen, wie es wohl auch in Prizren vor dem Krieg gewesen sein muss. Oder wie in den Büchern von Andrić beschrieben. So leben in der nordmazedonischen Hauptstadt Mazedonier, Albaner, Türken, Griechen, Serben, Bosniaken und Roma. Es gibt Kirchen und Moscheen – und gute Rakija-Bars.
Entsprechend gibt es auch verschiedene Theater: das mazedonische Nationaltheater, aber auch das albanische und das türkische Theater. An diesem Abend spielt das türkische Theater im von einer mehrstöckigen Galerie umgebenen Innenhof einer alten Karawanserei im Basarviertel. Die Szene ist mit bunten Teppichen ausgelegt, es wird Mazedonisch, Türkisch, Albanisch und Englisch gesprochen, das ist auch für die Übertitelung eine Herausforderung. Auch an diesem Abend geht es wieder um die tragischen Identitätskonflikte des Balkans, um Gewalt – und am Ende um eine Utopie.
Es ist keine kitschige Idylle, die der albanische Regisseur Qëndrim Rijani in „The Blind“ zeichnet, sondern das Bild einer allgemeinen Blindheit, ausgelöst durch Nationalismus und Identitätswahn. Im Stück kommen auch die Angriffe der UÇK in Nordmazedonien 2001 und 2015 vor. Und die Gefahr, dass die Konflikte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen angeheizt werden könnten. Der Kosovo ist hier auch warnendes Beispiel. Ganz viel Gefühl gibt es in der Schlussszene, wenn ein Liebespaar wie Romeo und Julia trotz aller Widerstände zusammenkommt. Es ist zugleich eine Liebeserklärung an die unwahrscheinliche Vision eines postjugoslawischen, multiethnischen Balkans.
Wie viel von der Vision Wirklichkeit wird? Das ist unklar. Es ist kaum abzuschätzen, wie sich die politische Lage auf dem Balkan entwickeln wird. Auch im Kosovo und in Nordmazedonien schauen die Theatermacher nach Serbien, wo es seit über einem Jahr große Proteste gegen die Regierung gibt. Die Leitung des renommierten Belgrader Theaterfestivals Bitef ist gerade zurückgetreten, nachdem das Programm zensiert wurde. Auslöser war ein Stück von Milo Rau, der im Vorjahr eine kritische Rede zum Lithium-Abkommen mit der EU gehalten hat. Seitdem gilt er in Serbien offiziell als unerwünschte Person. Eventuell gibt es nun ein Guerilla-Festival. Hoffentlich mit Rakija.
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