Kunst in Istanbul? Geht das überhaupt in einem Land, in dem die Sonne der Demokratie jeden Tag ein Stück tiefer sinkt, wo man für jeden noch so kleinen Internet-Post verhaftet werden kann und der gewählte Bürgermeister Ekrem Imamoglu seit April hinter Gittern sitzt? Sein einziges Vergehen: Bei den anstehenden Wahlen würde er Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wohl vernichtend schlagen. Das alles sagt viel über die Macht und die Stimmung in der Türkei aus. Die Luft zum Atmen wird dünner. Und in der Kunstszene gärt es gewaltig.

„Unsere Kunst muss neu munitioniert werden“, sagt die junge Künstlerin Irem Günaydin zum Auftakt der Biennale von Istanbul. „Unsere Museen sind tot. Was hat das Prestigeprojekt Istanbul Modern, was hat dieser prestigeträchtige Glaspalast, gerade mal vor zwei Jahren von Stararchitekt Renzo Piano dorthin gesetzt, noch mit der Stadt und unserem Leben zu tun? Nichts.“

Die Guerilla-Künstlerin mit dem anarchischen Herzen schleicht sich an inoffizielle Orte und malt ihre Bilder und Botschaften zum Beispiel auf die Spiegel der Toiletten in großen Museen („Ich will den Reinigungskräften nicht allzu viel Arbeit machen“). Vor Polizei und Justiz hat Günaydin keine Angst, ebenso wenig wie Sükran Moral, eine der international mutigsten und scharfsinnigsten Konzeptkünstlerinnen der Welt, eine Art türkische Marina Abramović.

Moral, 64, prangert etwa mit Ironie und Sarkasmus die von manchen islamischen Strömungen tolerierte Kinderheirat an (Mindestalter neun Jahre). Trotz ihrer erfolgreichen Performances und Ausstellungen findet sie in den Medien ihrer Heimat nicht statt. „Ich muss tun, was ich tun muss. Schreiben Sie das bitte in Ihrer deutschen Zeitung, ganz egal, was mit mir passiert.“ Auch dann, wenn morgen ein mit Messern bewaffneter Mob von Islamisten vor ihrer Dachwohnung auftaucht? „Auch dann“, sagt Sükran Moral. „Mein Körper ist nicht so wichtig. Hauptsache, die Wahrheit kommt heraus.“

Das Zauberwort heißt Widerstand – und Resilienz. Das drückt sich bereits im Titel der Biennale aus: „Die dreibeinige Katze“. Kritiker beschworen rasch das liebevolle Bild der hunderttausend Istanbuler Straßenkatzen herauf, die sich gern auf Treppenstufen fläzen. Es heißt, die Einwohner kümmerten sich leidenschaftlich um die Tiere, brächten sie sogar zum Arzt.

Was die Kuratorin Christine Tohmé damit meinte, war freilich etwas anderes: Katzen haben sieben Leben. Mit ihren Samtpfoten mögen sie Schlimmes erlebt haben, doch unterkriegen lassen sie sich nicht. Katzen sind Lehrmeister des Widerstands, sie sind nicht käuflich, sondern beweisen Charakter und Persönlichkeit. Auf diese Qualitäten kommt es an, meint die aus dem Libanon stammende Kuratorin Tohmé, gerade in diesen wahnsinnig gewordenen Zeiten.

Mit der Wahl von Tohmé als Kuratorin änderte sich der Blickwinkel der Biennale. Plötzlich rückte Gaza ins Zentrum und blieb fast hypnotisch im Fokus. Künstlerisch ist das nicht produktiv; manches, was in Istanbul zu sehen ist, gehört eher in den Bereich Aktivismus. Aber es gibt auch atemberaubende Entdeckungen, etwa die metaphysischen, sich in Zeitlupe dehnenden Videos von Sufi-Tänzern. Der Sufismus steht für eine spirituelle Ausrichtung des Islam, die nach innerem und äußerem Frieden strebt.

Eine Arbeit ist so gelungen, dass sie allein den Besuch der Biennale lohnt. Die 1997 in Haifa geborene und in Jerusalem ausgebildete Mona Benyamin hat ein Video für die Ewigkeit gedreht. Es beginnt als harmlose Fernsehsendung mit dem Wetterbericht. Ihr eigener Vater gibt den Moderator. Doch während die Sonne von Gewitterstürmen abgelöst wird, sieht man im Hintergrund die Geschichte Palästinas vorüberziehen: den britischen Kolonialismus, die Vertreibungen von 1948, die Kriege um das Heilige Land, die Bombardierung von Hochhäusern, in denen zwischen Zivilisten und Terroristen nicht mehr unterschieden wird und Menschenleben, wie so oft im Krieg, zur quantité négligeable schrumpfen – das, was man heute zynisch als Kollateralschaden nennt.

Anstatt tränenreich die Welt anzuklagen und in bittere Verzweiflung auszubrechen, beginnt der Moderator vor der Welle apokalyptischer Bilder im Hintergrund zu lachen. Erst fein und leise, dann immer intensiver und wahnsinniger, lacht sich der Mann die Seele aus dem Leib. Er ringt um Luft, klopft sich auf die Schenkel. Dem Zuschauer nimmt es den Atem. Vielleicht denkt mancher an Beckett: „Nichts ist lustiger als das Unglück.“ Doch lustig ist daran nichts.

Genau das kann Kunst: die Brechung des Tragischen im Absurden, die Überführung von Pathos in Form, die erst über die kognitive Dissonanz zur Sprache gebracht wird. Im Libanon ist das Paradox schon lange oberstes Kunstprinzip.

Vielleicht ist die Kunst aber in der Republik, die neuerdings auch auf Englisch als „Türkiye“ bezeichnet werden will, tatsächlich die letzte Bastion der Freiheit. Auch wenn sie meist klein, symbolisch und im Verborgenen zuschlägt, kann sie ein Hebel gegen die Politik eines machttrunkenen Präsidenten sein, der überall Verrat wittert und sich in seinem 1150-Zimmer-Palast in Ankara verschanzt.

Das Brückenland zwischen Asien und Europa, strategisch auch für Europa von höchster Bedeutung, dümpelt seit Jahren in schwerster Krise vor sich hin: die Währung im freien Fall, die Armut explodiert. Viele türkische Familien, die nicht zur oberen Mittelschicht gehören, wissen nicht, wie sie über die Runden kommen sollen. 2024 kletterte die Inflation auf 75 Prozent, die grassierende Arbeitslosigkeit verschärfte ein Ansturm von Migranten, gegen den der Zuzug in Deutschland wie ein laues Lüftchen wirkt.

Den Präsidenten lässt das kalt, er ergeht sich in Großmachtträumen. „Make Turkey Great Again“ – Erdogan möchte gern international mitspielen, von Gaza über Damaskus bis nach Teheran, doch die Konflikte schwappen in sein Reich zurück. Das Verhältnis zu Israel ist auf dem Gefrierpunkt angelangt, seitdem Netanjahu gedroht hat, die Hamas notfalls auch in der Türkei zu bombardieren. Bei der Pressevorbesichtigung der Biennale Ende September donnerten Kampfflieger über den Bosporus.

Nur die Künstler hauen auf den Putz

Istanbul ist, neben Kiew, die am stärksten gefährdete Metropole Europas. Nicht nur, weil die Stadt gleichsam auf Feuer gebaut ist. Zwei Kontinentalplatten reiben aneinander, Geologen sagen ein Mega-Erdbeben voraus. Nun zündet die Politik mit Drohungen, Verhaftungen und kafkaesken Schauprozessen gegen angebliche Regimegegner eine neue Stufe. Ein Klima der Angst, des Schweigens und der Selbstzensur prägt die Stimmung, bis in die Spitzen der Gesellschaft.

Das Unbehagen hat auch die Eliten befallen. Wenn es darum geht, Erdogans fortschreitende Verschrottung der Demokratie beim Namen zu nennen, ducken sich fast alle weg, sogar die Mächtigsten. Beim Interview mit WELT AM SONNTAG heißt es plötzlich: „Cut“. Kaum jemand möchte sich in Gefahr bringen. „Wir wissen nicht mehr, was wir sagen dürfen und was nicht“, murmelt einer der Moguln, ein verdienstvoller Vertreter des Istanbuler Kulturbetriebs, hinter vorgehaltener Hand.

Nur die Künstler hauen auf den Putz. Halil Altındere, Star der zeitgenössischen Szene, wartet zur Kunstmesse mit einer goldenen Statue von Pinocchio auf. Die lange Nase wird zu einer Art Besenstiel, sie reicht bis zum Boden. An ihrem Ende sitzt ein Besen, mit dem die Lügen weggewischt werden können.

Auf einem Gemälde Altınderes erscheint Istanbul als mittelalterliche Festung. Darüber wölbt sich ein klassisch-goldener Himmel, durch den Drohnen, Kampfhubschrauber und Tarnkappenbomber schwirren, wie sie bei Israels Angriff auf Teheran im Sommer zum Einsatz kamen. Vor seinem Zelt thront Sultan Mehmed aus dem 15. Jahrhundert und lässt sich von Robotern der Firma Tesla die neuesten Waffensysteme vorführen, die gerade von Waffenhändlern zum Erwerb angeboten werden.

Einer, der sein Engagement für den Rechtsstaat kaum zügeln kann, ist Bedri Baykam. Der 66-jährige Maler und Installationskünstler mit den noch immer wuseligen Locken zählt zu den unbequemen Kreativen und ist auch als Zeitungskommentator gefürchtet. 2010 wurde er von einem islamistischen Fanatiker mit dem Messer angegriffen und lebensgefährlich verletzt, Baykam überlebte nur knapp.

In seiner Galerie Piramid Sanat nahe dem Taksim Platz präsentiert Baykam ein Gemälde von Staatsgründer Atatürk, hoch zu Ross, in strahlend expressionistischen Farben.  Atatürk wird von seinem Volk beinahe wie ein Heiliger verehrt. Baykams Porträt ist nicht ganz ohne Hintergedanken. Erdogan nämlich wollte vor einigen Jahren einen Gaul besteigen und wurde übel abgeworfen. Davon kursiert im Netz noch ein peinliches Video. „Das wäre Atatürk nie passiert“, kommentiert Bedri Baykam mitleidsvoll. „Einen wie ihn bräuchten wir jetzt.“

„Klug, ruhig und radikal“

Wer als Tourist in diesem goldenen Spätherbst nach Istanbul reist, bekommt von all den Spannungen so gut wie nichts mit. Nie, so scheint es, hat die Stadt intensiver gestrahlt als jetzt. Das Leben pulsiert, weiße Schiffe kreuzen über dem tiefblauen Wasser des Bosporus, verbinden Asien mit Europa, das Schwarze Meer mit dem Mittelmeer. Keine Stadt der Welt hat eine Lage wie Istanbul.

Am Wasser sind in den letzten beiden Jahren neue Kunstorte entstanden. Die Messe Contemporary Istanbul hat sich am Goldenen Horn eingenistet, im nagelneuen, prachtvollen Luxushotel Rixos Tersane. Hier werden neue Maßstäbe gesetzt. Noch 2019 war das Nordufer des Goldenen Horns eine verlassene, braungraue Brache mit stillgelegten Fabrikgebäuden, uralten Werften, wo man mit Gummistiefeln im Schlamm watete. Heute blüht hier Spitzengastronomie – und eben Kunst.

Der Kopf hinter der aufwendigen Transformation ist Ali Güreli, der Präsident von Contemporary Istanbul. Der Visionär hat die türkische Gegenwartskunst international erst sichtbar gemacht. Und er beweist Rückgrat: „Probleme mit der Demokratie und den Menschenrechten gibt es derzeit in vielen Staaten“, erklärte er in seiner Eröffnungsrede. Deshalb müssten die Künstler bleiben, was sie seien – „klug, ruhig und radikal“. Man versteht sofort, was in dieser politischen Lage gemeint ist. Bürgermeister Imamoglu, der bekanntlich unter absurden Vorwürfen im Gefängnis sitzt, ist übrigens selbst Kunstsammler und war jedes Mal auf der Contemporary Istanbul unterwegs.

Wie geht es weiter? Vielleicht kann niemand darauf so gut antworten wie die Künstler.

Der Emirati Abdullah Al Saadi, ein Pionier der Konzeptkunst im Nahen Osten, füllt einen ganzen Saal mit Sandalen aus Stein: die Gummischlaufen für die Zehen fußen auf zentnerschweren Felsbrocken. Der Weg ist steinig. Und doch kommt die dreibeinige Katze humpelnd, aber stetig voran.

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