In Hollywoodfilmen enden Liebesfilme mit dem Kuss. Auf die Darstellung des Ehelebens danach verzichtet man aus guten Gründen. Das Gleiche gilt für Revolutionen: Der pathosgeladene Freiheitskampf lässt sich in Liedern besingen. Doch was folgt darauf? Wenn das große Schlachten ausbleibt, wenn die Revolution ihre Kinder nicht frisst, muss in mühseliger Arbeit ein neues System errichtet werden. Das ist weder sexy, noch liefert es schöne Bilder. Diesem Problem widmet sich Sibylle Berg in ihrem neuesten Roman „PNR: La Bella Vita“, einer traurigen Utopie für Beinahe-Hoffnungslose.
Es ist geschafft! In der nicht fernen Zukunft haben sich die Menschen von libertären, überwachungskapitalistischen und de-facto-faschistischen Regimes befreit und leben endlich das gute Leben. Don zum Beispiel wohnt in einem italienischen Palazzo, dessen Schönheit, die sich in Tonnen von Marmor und endlosen Kolonnaden manifestiert, einst das Sinnbild für die Beherrschung der Volksmassen war: Diejenigen, welche die Prunkpaläste erbaut und finanziert hatten, durften sie nicht einmal betreten.
Wenn Don jetzt in ihrem weichen Bett erwacht, erinnert sie nichts an ihre Kindheit in Rochdale, einer nordenglischen Arbeiterstadt, die von Armut, Drogensucht und allgemeiner Verwahrlosung gekennzeichnet war. Dort hatte sie als Kind gemeinsam mit Karen, Hannah und Pjotr gegen das System rebelliert.
Diese Geschichte erzählte Sibylle Berg in ihrem Roman „GRM Brainfuck“, der in einem atemlosen Duktus vom sozialen Niedergang und dem Versuch der Revolution förmlich rappte. Bergs Nerds scheiterten vorerst. Das änderte sich in Bergs Roman „RCE: Remote Code Execution“, in dem es einer Hacker-Gruppe gelingt, nicht nur auf die Endgeräte der Weltgemeinschaft zuzugreifen, sondern das Bewusstsein der Menschen umzucodieren. Sobald der digitale Schleier von den Augen der Menschen gezogen wird, lässt sich das System, das von Fußball-Übertragungen und Social-Media-Hass am Leben gehalten wurde, endlich überwinden.
Nun also ist es Zeit für „PNR“ – Piano nazionale di ripresa, der nationale Plan für den Wiederaufbau. Nicht ironiefrei benannt nach dem „Wiederaufbauplan“ Mario Draghis, der die Italiener wieder kreditwürdig machen sollte. Berg schließt damit ihre Romantrilogie ab und erzählt den Wiederaufbau im bekannt lakonischen Tonfall, irrsinnig komisch ist das und unerträglich deprimierend zugleich. Wieder folgt sie ihren nerdigen Helden, die allerdings keine Teenager mehr sind. Wer die beiden Vorgängerromane nicht gelesen hat, der bekommt zwischendurch die nötigen Fakten von Don „als Buchhalterin der neuen Zeit“ geliefert.
Man kann sich das Ende der Welt vorstellen, doch nicht das Ende des Kapitalismus, heißt es. Deswegen malt uns Berg aus, wie es aussehen könnte, wenn die Produktionsmittel allen gehören und die Arbeit solidarisch organisiert wird. Doch dann kommt Bergs Pessimismus (oder Realismus?) ins Spiel, in Sätzen wie: „Ich kann nicht sagen, ob jedes Land in Zukunft seine Menschen autonom versorgen kann und ob die irgendwann durchdrehen werden, wenn sie nicht täglich Wurst und Hack und Innereien schlemmen können.“
Dass das marxistische Versprechen „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ bereits im Sozialismus zum Leitsatz „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ umgedeutet wurde, verheißt ja nichts Gutes. Und tatsächlich: Je länger man „La Bella Vita“ liest, desto hoffnungsloser wird man.
Kann Kapitalismus wirklich zu Ende gehen?
Dass die Tagelöhner von gestern die Museen bevölkern, sobald sie vom Joch der Arbeit befreit sind, das glaubt man nicht ganz. War da nicht etwas mit dem Habitus, der sich den Menschen einschreibt und unbedingt persistent ist? Wollen sie „La Traviata“ oder „Dschungelcamp“? Und wenn die einen auch morgen noch Korn anbauen, während die anderen Arien trällern, wie gerecht ist das System der schönen neuen Welt à la Huxley dann?
Wo die beiden Vorgängerromane davon profitierten, in einer nahen Zukunft zu spielen – der Leser also gar nicht viel Vorstellungsvermögen benötigte, sich die Dystopie der Überwachungstechnologien auszumalen –, kann die Aussicht auf das Leben danach nicht auf bekannte Bilder zurückgreifen. Stattdessen muss Berg gegen die bereits realisierten Formen der Utopie in Form des Staatssozialismus der Sowjetunion anschreiben, der ja bekanntlich so befreiend für die Arbeiter nicht war. Vielleicht rührt daher die spürbare Melancholie des Textes. So entsteht beim Lesen der Eindruck, dass Berg, die von schopenhauerscher Misanthropie nicht ganz freizusprechen ist, selbst nicht von der schönen neuen Welt überzeugt ist.
Ob sich in der neuen Freiheit Freiwillige finden, die sich auf den Feldern abrackern wollen, ohne den Zwang, Geld zu erwirtschaften, das sei dahingestellt. So brachte noch jede Gesellschaftsform eine Form der Knechtung hervor, die genau dieses Problem zu lösen wusste: Sklaverei, traditionelle Lohnarbeit unter kapitalistischen Bedingungen oder die erzwungene Selbstausbeutung im Plattformkapitalismus – sie alle lassen uns arbeiten. Das schöne Leben, es bleibt vorerst unerzählbare Utopie.
Sibylle Berg: PNR: La bella vita. Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 26 Euro
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