Ein 38-Jähriger wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Der Körper ist aufgedunsen. Die Zähne sind ihm ausgefallen. Apathie und Alkohol haben ihr Werk vollendet. Einer mehr, dem „auf Erden nicht zu helfen war“, mit dem Dichter Heinrich von Kleist zu sprechen. Doch von Mitgefühl ist beim Erzähler nicht viel zu spüren. Denn es handelt sich um seinen älteren Bruder. Seit Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu ihm. Zu viel ist passiert zwischen ihnen. Der Tote hat den Autor malträtiert, bedroht, verhöhnt, auch wenn er hin und wieder anfallsweise Zuwendung bekundete. Doch die erlahmte schnell, wenn der Suff den Älteren wieder übermannte.
Wie konnte es so weit kommen, bis zum titelgebenden Absturz, durch multiples Organversagen? Das ist die Frage, die Édouard Louis in diesem Memoir umtreibt, mit dem der 33-Jährige seine Familiengeschichte abschließt. Sie hat ihm internationalen Erfolg eingebracht, denn so schonungslos hat noch kein Sohn des französischen Prekariats das trostlose Leben der Abgehängten in Nordfrankreich beschrieben.
In linken Kreisen kam gut an, dass sich Louis die soziologischen Theorien seines intellektuellen Ziehvaters Didier Eribon zu eigen machte und immer schön „den“ Kapitalismus und „die“ Gesellschaft für das Nichtgelingen von Lebensentwürfen in seinem familiären Umkreis verantwortlich machte. In seinem Buch „Wer meinen Vater umgebracht hat“ verstieg er sich sogar zu der These, die diversen Gesundheitsminister seit der Präsidentschaft Sarkozys seien schuld am Ende seines Vaters, der nach einem Betriebsunfall nicht wieder auf die Beine kam.
Umso erfreulicher, dass hier nun mehrfach der Satz fällt: „Ich weiß es nicht.“ Nicht „die sozialen Faktoren“ im Leben seines älteren Bruders werden in Anschlag gebracht, sondern es heißt schon gleich zu Beginn seiner skrupulös abwägenden Lebenserzählung: „Mein Bruder war an seinem Träumen erkrankt.“ Das klingt poetisch. Eines Dichters würdig. Aber was genau ist damit gemeint?
Louis, der sich gern bei bekannten Schriftstellern rückversichert, kommt erstaunlicherweise nicht auf die Idee, die „Träume“ seines Bruders, die narzisstischen Größenfantasien entspringen, auf einen Topos zu beziehen, der viele französische Schriftsteller inspirierte. Gemeint ist der Topos der „verlorenen Illusionen“. Heißen sie nun Lucien de Rubempré oder Julien Sorel, seien sie nun von Balzac oder Stendhal ersonnen: Immer wieder taucht in Frankreichs Romanliteratur der Typus des „Arrivisten“ auf, der die Eierschalen seiner Herkunft abstreifen will, um ganz groß herauszukommen.
Zwischen Naivität und Wirklichkeit
Diese jungen Männer wittern ihre Chance, kommen hoch, stürzen ab, rappeln sich wieder auf, scheitern erneut, und nur diejenigen schaffen es, die aus Fehlern lernen und trotz „verlorener Illusionen“ das Beste aus ihrem Leben zu machen verstehen. Auch der Bruder von Édouard Louis bekommt seine Chancen. Der junge Mann, der im nüchternen Zustand sanft und liebenswürdig sein kann, wird von einem Metzgermeister spontan aus Sympathie eingestellt. Später hilft ihm die Mutter eines Freundes beim Einfädeln einer Karriere als Restaurator. Ein Immobilienbesitzer findet Gefallen an ihm, lässt ihn Wohnungen renovieren und deutet an, dass er ihn als Erbe einsetzen will.
Aber anstatt Schritt für Schritt voranzugehen, will der Geförderte, dem übrigens auch diverse Frauen Stabilität zu geben versuchen, immer gleich alles. Will bester Metzger Frankreichs werden, als Restaurator für Notre-Dame in Paris zuständig sein. Oder er sieht sich schon als reichen Erben gar nicht mehr arbeiten. Es sind also nicht die Träume, an denen er erkrankt; es ist die Naivität, mit der er glaubt, dass sie sofort Wirklichkeit werden müssten.
In einem Punkt hat Louis recht, wenn er auf „soziale Faktoren“ zu sprechen kommt: Um eine zweite Chance müssen junge Leute aus der Unterschicht härter kämpfen als Bürgerkinder. Wer kennt sie nicht, die Vertreter der „Generation Z“, denen die Eltern immer und immer noch eine neue Ausbildung, ein neues Studium finanzieren, damit sich der Nachwuchs, der sich weder entscheiden noch bewähren will, „ausprobieren“ kann. Das kann man getrost Wohlstandsverwahrlosung nennen. Und das Schlimme ist, dass nicht diejenigen, die im Wohlstand leben, daran zugrunde gehen, sondern die anderen, die nicht die Mittel dazu haben, aber sich die Muster trotzdem aneignen. Insofern erzählt hier Édouard Louis nicht nur vom Scheitern eines Prekären, sondern von einem Verhalten, das in allen Schichten der Gesellschaft vorkommt.
Édouard Louis: Der Absturz. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Aufbau, 222 Seiten, 24 Euro
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