Der polnische Staatspräsident Karol Nawrocki hat Mitte Oktober sein Veto eingelegt, um zu verhindern, dass Wilmesaurisch, ein in Schlesien gesprochener Dialekt deutschen Ursprungs, offiziell als Regionalsprache anerkannt wird. Damit widersetzt er sich dem Rat von Linguisten und beiden Kammern des polnischen Parlaments, die bereits ihre Zustimmung gegeben hatten. Gegner des Vorschlags fanden sich in der rechtsnationalistischen Partei PiS, von der Nawrocki unterstützt wird.
Wilmesaurisch ist ein ostmitteldeutscher Dialekt, der manchmal als die kleinste germanische Sprache der Welt bezeichnet wird – in der Sprachwissenschaft gibt es keine strenge Unterscheidung zwischen einem Dialekt und einer Sprache. Die Unesco betrachtet Wilmesaurisch als stark bedroht. Nur 20 bis 100 Sprecher benutzen das Wilmesaurische intensiv. Alle sind hochbetagt und leben in der Stadt Wilamowice (deutscher Name: Wilmesau), die etwa 3000 Einwohner hat und 50 Kilometer unterhalb von Katowice liegt.
Dennoch hat das Wilmesaurische eine eigene Literatur und wird sowohl von den Vereinten Nationen als auch von der amerikanischen Library of Congress anerkannt. Bei der Internationalen Organisation für Normung (ISO) hat die Sprache einen eigenen Code: wym (das Deutsche hat zwei: ger und deu).
In einer Erklärung schreibt Nawrocki, dass „jede Äußerung von lokalem Patriotismus und Sorge um die Erhaltung des Erbes der Vorfahren Respekt verdient“. Der Status als Regionalsprache ermöglicht es, eine Sprache in Schulen zu unterrichten und auf kommunaler Ebene zu verwenden. Das Gesetz, das den Status des Wilmesaurischen bestätigt, will Nawrocki nach eigenen Angaben nicht unterzeichnen, da die Entscheidung keine politische sein sollte, sondern „das Ergebnis wissenschaftlicher und sprachwissenschaftlicher Forschung“. Nawrocki zitiert Linguisten, die die Anerkennung ablehnen, und schreibt, er habe „begründete Zweifel“, ob die Regelung „auf inhaltlichen Überlegungen und nicht ausschließlich auf symbolischen oder politischen Gründen“ beruhe.
Das Veto des Staatspräsidenten steht im Einklang mit der antideutschen Stimmung innerhalb der PiS und der Überzeugung, dass nur Polnisch die Sprache ganz Polens sein sollte. Nawrockis Vorgänger Andrzej Duda, ebenfalls der PiS verbunden, legte im vergangenen Jahr sein Veto gegen die Anerkennung des Schlesischen ein, einer von etwa 460.000 Menschen gesprochenen westslawischen Sprache, obwohl das polnische Parlament diesen Beschluss gebilligt hatte. Duda bezeichnete Schlesisch als polnischen Dialekt.
Die einzige anerkannte Regionalsprache Polens ist derzeit das ebenfalls westslawische Kaschubisch, das von etwa 100.000 Menschen in der Umgebung von Danzig gesprochen wird und in Günter Grass’ klassischem Roman „Die Blechtrommel“ vorkommt.
Die Wurzeln des Wilmesaurischen reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück, als die Herzöge von Schlesien Siedler aus dem Westen holten, um ihre Gebiete zu erschließen – ein Teil der sogenannten deutschen Ostsiedlung. Neben Deutschen kamen auch Holländer, Flamen, Friesen und Schotten. Die lokale Sprache entwickelte sich relativ isoliert und wurde zudem stark vom Polnischen beeinflusst.
Sprachlich gehört das Wilmesaurisch zu den mitteldeutschen Dialekten und ist als solches mit dem Thüringischen und in geringerem Maße mit westmitteldeutschen Dialekten wie dem Hessischen und sogar dem Kölner Dialekt verwandt. Im Gegensatz zu den übrigen deutschsprachigen Einwohnern Schlesiens sahen sich die Muttersprachler jedoch nicht als Deutsche – als Kommunikationsmittel mit den umliegenden Dörfern verwendeten sie Polnisch.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schufen Florian Biesik (1849–1926) und Józef Gara (1929–2013) literarische Werke in Wilmesaurisch, geschrieben in einem von ihnen selbst angepassten Alphabet. Bis zum Zweiten Weltkrieg war es die allgemeine Umgangssprache in Wilamowice. Als westgermanische Sprachvariante wurde das Wilmesaurische während der deutschen Besatzung von den Nazis gefördert, nach Kriegsende vom polnischen kommunistischen Regime aber verboten. Die polnische Grenze verschob sich nach Westen, Deutschsprachige verließen die Region, Polnisch etablierte sich als neue Einheitssprache.
Obwohl das Verbot in den 1950er-Jahren aufgehoben wurde, erlangte das Wilmesaurische nie wieder seine frühere Stellung zurück. Insbesondere in diesem Jahrhundert werden Versuche unternommen, die Sprache wiederzubeleben, unter anderem durch ein Sprachprogramm an der Universität Warschau – und durch den Antrag auf Anerkennung als offizielle Regionalsprache.
Obwohl es exotisch aussieht, ist das Wilmesaurische für Deutsche einigermaßen verständlich. Syster bedeutet „Schwester“, ganc „ganz“, ödum „Atem“, nimanda „niemand“. Als Grundlage des Alphabets dient das Polnische, sodass ein W wie ein V ausgesprochen wird, ein Y wie ein I und ein L wie ein doppellippiges W, wie im englischen „world“. So bedeutet zyłwer „Silber“, wynter „Winter“ und bryk „Brücke“. Und was ist mit dem folgenden Vers: Ynzer Foter, dü byst ym hymuł/ Daj noma zuł zajn gywajt/ Daj Kyngrajch zuł dö kuma? Genau, die ersten drei Zeilen des Vaterunsers. Und Wełt? Die lesen Sie gerade.
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