Die Fondation Cartier pour l’art contemporain zieht vom Boulevard Raspail im Süden von Paris mitten ins Zentrum der Stadt. Am 25. Oktober 2025 wird das von Stararchitekt Jean Nouvel umgestaltete Gebäude, das zwischen Louvre, der aktuell wegen eines Einbruchs weltweit in den Schlagzeilen ist, und Palais Royal liegt und einen ganzen Häuserblock umfasst, eröffnet. Das Innere ist entkernt, die klassische Fassade aus der Zeit des Baron Haussmann komplett erhalten. Entstanden ist ein überraschend lichtdurchfluteter Raum, aus dem man auf die Straße und in den Louvre hineinblicken kann.

Auf 6500 Quadratmeter Ausstellungsfläche und dank höhenverstellbarer Ebenen kann die Stiftung dort eine einzigartige Hightech-Museumsmaschine bespielen. Mit dem Titel der Eröffnungsausstellung „Exposition Générale“ spielt der Belgier Chris Dercon, der die Fondation Cartier seit drei Jahren leitet, auf die Vorgeschichte des Gebäudes als Auktionshaus für Antiquitäten und Kaufhaus an. Sie gibt dank der knapp 600 Werke von 300 Künstlern einen Überblick über die Sammlung, die sich seit vier Jahrzehnten als Labor versteht und an derselben Frage reibt: Wie verändert Kunst uns und unser Verhältnis zur Welt?

WELT: Herr Dercon, die Pariser Innenstadt, vor allem das rechte Seine-Ufer, ist zu einer Art Museumsinsel geworden mit vielen neuen Kunstinstitutionen. Die Konkurrenz ist riesig. Wie werden Sie sich von den anderen unterscheiden?

Chris Dercon: Ich sehe das nicht als Konkurrenz, sondern als gegenseitige Bereicherung und Befruchtung. Nachdem die Fondation Cartier schon seit Jahren nach einem neuen Standort gesucht hat, bot das Gebäude hier eine einzigartige Gelegenheit. Jean Nouvels Museum am Boulevard Raspail ist großartig, aber es platzte aus allen Nähten. Die Sammlung wuchs und es kamen immer mehr Besucher. Die Ausstellung über Bäume, „Nous les arbres“, hat 240.000 Besucher angezogen, Ron Mueck sogar 400.000. Auch die letzte Ausstellung von Olga de Amaral war ein Erfolg. Als klar war, dass der „Louvre des Antiquaires“ schließt und zur Verfügung steht, hat Jean Nouvel den Stiftungsgründer Alain Dominique Perrin überzeugt, dass man darin etwas Großartiges machen könnte: Das Innere war komplett obsolet. Das Äußere ist eine fantastische Haussmann-Fassade. Und der urbane Kontext könnte historisch gar nicht dichter und vielschichtiger sein.

WELT: Jean Nouvel ist bekannt für seine Museumsbauten, die unkonventionell und innovativ sind. Wieso hat ihn die Entkernung eines alten Gebäudes interessiert?

Dercon: Nouvel hat immer viel ausprobiert. Das begann mit dem Institut du monde arabe, ging weiter mit der Fondation Cartier am Boulevard Raspail, schließlich mit dem Musée du quai Branly. Er hatte viele Ideen, wie er in diesem Gebäude seine Arbeit genauso unkonventionell fortsetzen kann. Die dynamische Architektur mit ihren höhenverstellbaren Ebenen und Modulen ist natürlich nicht seine Erfindung, Rem Koolhaas hat das schon vor ihm gemacht. In Wahrheit geht das sogar auf Jean Prouvé und seine Maison du Peuple in Clichy zurück, das 1940 fertiggestellt wurde; auch auf das Centre Pompidou. Prouvé war damals Jury-Vorsitzender und hat die jungen Hippies Renzo Piano und Richard Rogers, die von Cedric Prices „Fun Palace“ beeinflusst waren, gewarnt: „Wir gehen ein großes Risiko ein, indem wir euch den Wettbewerb gewinnen lassen, aber bitte übertreibt nicht!“

WELT: Die Rechnung ist aufgegangen, auch wenn Beaubourg (das Centre Pompidou) jetzt für fünf Jahre wegen Renovierung schließen muss. Wie würden Sie Ihr neues Haus beschreiben?

Dercon: Ich würde es als kubistisches Gemälde beschreiben oder mit den „simultanen Kleidern“ von Sonia Delaunay vergleichen: Man sieht alles gleichzeitig. Es entstehen neue Perspektiven zwischen den Werken und man kann die Menschen beobachten, die sie ansehen. Die horizontale Perspektive vermischt sich mit der vertikalen. Es ist ein „street museum“ entstanden. Man muss nur hier aus dem Fenster schauen, die Passanten beobachten, und schon hat man eine Videoinstallation, ein Werk von Beat Streuli ganz umsonst! Auf der anderen Seite der Straße kann man in den Louvre hineinschauen. Das ist einfach fantastisch. Es ist eine Sehmaschine entstanden, eine Maschine des Sehens und Gesehenwerdens.

WELT: Allein durch die Lage neben dem Louvre wird ihr Publikum vermutlich sehr viel internationaler sein als vorher. Was ändert sich dadurch für Sie?

Dercon: Es wird ein komplett neues Publikum sein. Wir rechnen damit, dass 80 Prozent der Besucher noch nie bei uns waren. Das heißt, wir müssen große Anstrengungen bei der Vermittlung der Kunst unternehmen und Mediatoren einsetzen, die erklären, was die Fondation Cartier seit vierzig Jahren macht. Umgekehrt kann ich schon jetzt voraussagen, dass wir auch dem Louvre 400.000 bis 600.000 zusätzliche Besucher im Jahr bringen werden.

WELT: Die Eröffnungsausstellung heißt „Exposition Générale“. Gibt es einen roten Faden, eine Art Botschaft für diesen Auftakt?

Dercon: Der Titel ist eine Anspielung auf die Geschichte des Gebäudes, das 1855 zur Weltausstellung fertiggestellt wurde. Es war ein Hotel mit 1200 Zimmern und einer Art Einkaufszeile im Inneren. Dann zog das Hotel um, und das Gebäude wurde eines der großen Pariser Kaufhäuser. Die „expositions générales“, wie man das damals nannte, waren Modernitäts-Messen mit Objekten, Kleidung, Kunst. Heute würde man von einem Concept-Store sprechen. Wir zeigen unser Konzept. Denn in den über vierzig Jahren des Bestehens der Stiftung ging es nie darum, lohnende Investitionen zu machen, sondern alles zu mischen, Pluralität zu fördern. Der rote Faden der Eröffnungsausstellung ist Architektur, Stadtgeschichte, Handwerk und die Natur. Außerdem ist es Tradition, Denker und Wissenschaftler einzuladen, die sich mit den bildenden Künstlern austauschen. Diesen offenen Dialog werden wir fortsetzen.

WELT: Wo situieren Sie sich im Vergleich mit den anderen Stiftungen in Paris, mit Louis-Vuitton, Pinault, Lafayette, wo wollen Sie Akzente setzen?

Dercon: Ich verstehe die Stiftungslandschaft als einen Biotop. Wir sind ein Teil davon und haben unsere Arbeit immer als „infra-disziplinär“ verstanden, wie ich das in Anlehnung an Alexander Kluge nenne, der immer gesagt hat, dass es mit der Kunst und den Wissenschaften wie mit einem Garten sei: Das Wichtigste ist, was sich zwischen den einzelnen Pflanzen abspielt. Ich zähle auch die staatlichen Institutionen dazu. Alles ist durchlässig und beeinflusst sich gegenseitig. Und aufs Geld müssen wir alle achten. Es ist nicht so, dass die privaten Stiftungen endlose Budgets hätten.

WELT: Was hat dieses pharaonische Projekt gekostet?

Dercon: Darüber reden wir nicht. Aber am Boulevard Raspail hatten wir 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche, jetzt verfügen wir über 6500 Quadratmeter. Alles, was sie in der alten Fondation gesehen haben, können Sie hier mit sechs multiplizieren.

WELT: Seit dem Brexit heißt es, Paris habe London als Kunststadt abgelöst. Sie sind nach Ihrer missglückten Erfahrung an der Berliner Volksbühne seit sechs Jahren hier in Paris. Hält die Stadt ihr Versprechen?

Dercon: Es ist nicht nur Paris, das Zentrum hier am Louvre, sondern Groß-Paris, wie man das heute nennt, Le Grand Paris. Rund um den Boulevard périphérique sind in den vergangenen Jahren mit Poush, Art Explora und den Künstlerresidenzen in Saint-Denis Projekte wie Pilze aus dem Boden geschossen. Man muss sich das wie eine Sinus-Kurve vorstellen, die von wirtschaftlichen, politischen, aber auch menschlichen Faktoren abhängt. Paris ist im Moment ganz oben. Was mich begeistert, ist das außerordentlich gemischte Publikum, das anders als in München, Berlin oder Brüssel, regelrecht kultursüchtig ist. Das macht Paris einzigartig.

Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke