Nachkriegsmoderne: Dieses Wort geht einem durch den Kopf angesichts des schlichten, fast kargen Innenraums der Paulskirche, jenem deutschen Symbolort von 1848, der nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut worden ist und seit 1950 als Bühne für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels dient, zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse.

Dieser Moment am Sonntagvormittag ist als Hochamt der Kulturnation beschrieben worden, als die Aufführung des Gewissens der Intellektuellen-Republik Deutschland; in jedem Fall wirkt die Verleihungszeremonie des Friedenspreises, mit 25.000 Euro dotiert, wie ein Spiegel der politischen und geistigen Konfliktlinien der Gegenwart. Im vergangenen Jahr erst hatte an dieser Stelle die amerikanisch-polnische Essayistin Anne Applebaum vor den Gefahren des postsowjetischen Imperialismus und einem falsch verstandenen Pazifismus gewarnt.

An diesem Sonntag wird der Friedenspreis dem Historiker Karl Schlögel verliehen, einem Osteuropa-Experten, der seit Jahrzehnten zur russisch-sowjetischen Geschichte forscht und der sich seit der Annexion der Krim im Frühling 2014 und noch stärker seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 als nicht bloß engagierter, sondern kämpferischer Intellektueller neu erfunden hat: gegen das System Putin, den er als „Gestalt des Bösen“ und „Meister der Eskalationsdominanz“ bezeichnet.

Karl Schlögel nimmt unter deutschen Intellektuellen eine Sonderstellung ein: Er ist einerseits als Wissenschaftler ein Analytiker, andererseits aber kraft der eigenen Anschauung und Erfahrungen mehr als nur kühler Beobachter. Schlögel hat seit Studententagen immer wieder den osteuropäischen Raum bereist, oft auf eigene Faust, auf verschlungenen Wegen; von beiden Dimensionen zeugt sein Werk. Zu Beginn des Ukraine-Krieges konnte man am Rande einer Demonstration in Berlin Schlögel beobachten, wie er Reden zuhörte, mit ernstem Gesicht, gleichzeitig still weinend; ein einschneidendes Bild zwischen Ernst und Empathie, wie die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowsjaka in ihrer Laudatio bemerkt.

„Eine Welt, die sich aufzulösen begonnen hat“

Karl Schlögel, der mit festen, aber bewegten Worten spricht, stellt in seiner Rede zunächst die Frage, in welcher Zeit wir überhaupt leben, angesichts einer neuen „Weltunordnung“, in der „das Ungeheuerlichste“ geschieht: „Unter unseren Augen werden ukrainische Städte Tag für Tag, Nacht für Nacht von russischen Raketen beschossen, und Europa scheint nicht in der Lage oder nicht willens, sie zu schützen“. Fassungslos sei er auch angesichts des „mörderischen Pogroms der Hamas am 7. Oktober 2023 und der Verwandlung Gazas in ein Schlachtfeld mit Abertausenden von Opfern unter der Zivilbevölkerung“ gewesen.

Schlögel, 1948 geboren, wählt den Kollektivsingular „wir“: Er spricht nicht für sich allein; hier spricht auch ein Intellektueller der alten Bundesrepublik, der an die Kraft des Arguments geglaubt hat und nun seinen „Erfahrungshorizont“ wegbrechen sieht: „Es heißt Abschied zu nehmen von einer Welt, die sich aufzulösen begonnen hat.“ Gerade jetzt und hier – in der Paulskirche, zum Friedenspreis – müsse vom Krieg gesprochen werden, sagt Schlögel und zitiert Walter Benjamin: „Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg“. Die Nachkriegszeit sei vorbei, der Überfalls Russlands habe das Tor zu einer neuen Vorkriegszeit aufgestoßen.

Gibt es Lehren aus der Geschichte, die jetzt in der Gegenwart anwendbar wären? Nein, sagt der Historiker Schlögel: Es gebe keine für alle Zeit anwendbaren Rezepte, „da Geschichte sich eben nicht wiederholt“. Er habe sich nicht vorstellen können, dass Russland noch einmal zurückfallen würde „in Zeiten, die in vielem den Praktiken des Stalinismus gleichen“, den er so lange erforscht habe – und ebenso wenig, dass es einmal aus dem Amerika, das er als Student kennengelernt habe, ein Land werden könne, in dem sich „Angst vor einem autoritären Regime würde ausbreiten können“. Schlögel fügt hinzu: „Ganz fremd war mir der Gedanke, dass auch in der Bundesrepublik etwas ins Rutschen kommen könnte.“ Zu viele Russlandversteher habe es in Deutschland gegeben, und „zu wenige, die die etwas von Russland verstanden“.

„Ängste“, „Ressentiments“, „Nostalgien“

Was genau es zu verteidigen gilt, wenn es um die Ukraine geht: Diese Frage beantwortet Schlögel damit, dass die Ukraine ein „Europa im Kleinen“ sei, durch „Abertausende von Fäden“ mit der Welt verbunden. Die Ukraine sei ein „Prisma aller europäischen Erfahrungen im ‚Jahrhundert der Extreme‘: Schauplatz von Revolutionen, Bürgerkrieg und Weltkriegen, Holodomor und Holocaust und nach jahrzehntelangem Kampf endlich Unabhängigkeit und Freiheit.“

Die Fähigkeit offener Gesellschaften zu Selbstkritik und Selbstzweifel – Schlögel nannte sie die „größte Errungenschaft“ – werde derzeit von Russland genutzt, um Stabilität und Selbstvertrauen zu unterminieren. Europa und der Westen würden von russischer Seite als schwach und dekadent verhöhnt, was nicht ohne Echo bliebe „in einer Situation, in der die Lektüre von Spenglers ‚Untergang des Abendlandes‘ Konjunktur“ habe. Dieser Krieg werde auch als „Krieg um die Köpfe“ geführt, „mit Stimmungen, mit Ängsten, mit Ressentiments, mit Nostalgien oder als verlockendes Angebot, zu business as usual zurückzukehren“.

Schlögel beschließt seine Rede mit einer für einen Intellektuellen seiner Generation überraschenden Wendung: Egal, wie ahnungsvoll die Analysen des Totalitarismus in den Texten von Arendt, Horkheimer und Adorno im letzten Jahrhundert waren: in „unserer Zeitenwende“ müssen wir uns selbst auf den intellektuellen Weg machen.

Das hieß für Schlögel aber gerade nicht den Rückzug ins Denken, sondern sich die Ukrainer zum Vorbild zu nehmen, ihre „Verhaltenslehren des Widerstands“: „Sie sind der Spiegel, in den wir blicken und der uns daran erinnert, wofür Europa einmal gestanden hat und weshalb es sich lohnt, es zu verteidigen. Sie rufen uns zu: ‚Habt keine Angst‘ – nicht weil sie keine Angst haben, sondern weil sie ihre Angst überwunden haben. Sie sind es, denen wir unseren Frieden verdanken“. Schlögel sagte es nicht und tat es doch: Seinen Friedenspreis widmete er der Ukraine.

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