Geistiger Vampirismus
Zu traditionellen Chorgesängen von den Philippinen, dem diesjährigen Ehrengast, und sphärischem Allerwelts-Electro eines lokalen DJs wurde am Dienstagabend die Eröffnungsfeier der 77. Frankfurter Buchmesse eingeleitet. Oft zu sehen an diesem Abend: die „Traje de Mestiza“, eine philippinische Frauentracht, die sich vor allem durch ihre markanten Ärmel in Schmetterlingsform auszeichnet. Passend zum diesjährigen Messemotto „Fantasie beseelt die Luft“, betonten die philippinische Senatorin Loren Legarda, der Frankfurter Oberbürgermeister Mike Josef und Hessens Kultusminister Armin Schwarz jeweils den Stellenwert von Fantasie und Literatur für die Demokratie.
Die in ätherischen Höhen flatternde Festgemeinde holte Kulturstaatsminister Wolfram Weimer im Anschluss wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. In seiner Rede über die Rolle der Künstlichen Intelligenz (KI) für die Branche schmetterte er deutliche Worte in das Rund des sogenannten Frankfurter Congress Center: „Die KI wird wahrscheinlich die Welt der Bücher und Literatur zerfetzen – und daraus neue Welten bauen“, sagte Weimer. Das Gebaren der KI-Unternehmen sei „geistiger Vampirismus“ und „digitaler Kolonialismus“, durch den ganze Kulturen zu Rohstofflieferanten degradiert würden.
Tags darauf legte Weimer am Stand des „Zentrum Wort“ nach: „Die Large Language Models basieren darauf, dass sie in den letzten drei, vier Jahren einmal um die Welt gezogen sind und alles, was an kreativer Leistung vorhanden ist, raubkopiert haben – ohne jemanden zu fragen.“ jec
Spartanische Inseln
Vielleicht hat man noch zu sehr die pompöse Ästhetik des Gastland-Auftritts von Italien im letzten Jahr vor Augen, aber: Der Pavillon der Philippinen wirkt gegen die nachgebaute Piazza vor allem karg. Sechs spartanische Inseln aus Holz und Stahl, auf die Videos projiziert werden, dazwischen ein paar Sitzmöbel aus Rattan, hier und da liegen Bücher aus. Im Vergleich zur etwas blumigen Gesangsperformance der Eröffnungsveranstaltung: fast schon wohltuend, dass man das Motto des diesjährigen Gastlands offenbar wirklich über alles gestellt hatte: „Fantasie beseelt die Luft“. deli
Tradition am Boden
Jahrzehntelang war Suhrkamps Kritikerempfang in Siegfried Unselds Villa in der Klettenbergstraße eine Institution, ein Gedächtnis-Ort des Literaturbetriebs, der inoffizielle Auftakt des Buchmessenfestkalenders und, nach Unselds Tod 2002 und dem Umzug des Verlags nach Berlin 2010, ein letztes symbolisches Band zwischen dem Mythos Suhrkamp und der eher prosaischen Gegenwart, jahrelang regelrecht zelebriert von Verlegerwitwe Ulla Berkéwicz.
Im vergangenen Jahr, ausgerechnet mit Unselds 100. Geburtstag, wurde dieses Band endgültig und erstaunlich emotionslos gekappt: Erst wurde die Villa verscherbelt, dann der ganze Verlag (an den Unternehmer Dirk Möhrle). Nun fand der Empfang an neuem Ort wieder statt, im pittoresken Holzhausenschlösschen, dem Sitz der Frankfurter Bürgerstiftung. Das ist gleich bei der „Klette“, wie die alte Villa unter Verlagsmitarbeitern genannt wurde, um die Ecke, und äußerlich um einiges repräsentativer. Als Gast las an diesem späten Nachmittag Hans Ulrich Gumbrecht, ein verdienter später Vertreter der „Suhrkamp Culture“, aus seiner im Frühjahr erscheinenden Gelehrtenbiografie „Sepp“.
Der weiße Festsaal mit Galerie, aufgelockert durch eine regenbogenfarbene Taschenbuchdekoration, wirkte jedoch verglichen mit der alten Salon-Atmosphäre eher wie ein Reinraum, passend für eine komplizierte Organtransplantation: Von „Herz“ des Verlags wollen wir lieber nicht sprechen, angesichts der bei dieser Gelegenheit traditionell verklappten Alkoholmengen wäre „Leber“ vielleicht auch passender. Verlagschef Jonathan Landgrebe hielt sich dann auch gar nicht mit Programmatischem auf, begrüßte den neuen Besitzer mit Gattin (früher wurden einmal anwesende Autoren wie Rainald Goetz oder Thomas Meinecke namentlich genannt), und kam dann auf den ausgelegten tiefblauen Teppich zu sprechen, der ansonsten wohl niemandem besonders aufgefallen wäre: Der habe früher in der Villa gelegen und sei nun eigens für diesen Anlass aus Berlin wieder hertransportiert worden.
Really? Aberwitziger hätte Landgrebe die rasante Vergangenheitsentsorgung nicht auf den Punkt bringen können. Vielen Dank auch für das fast schon zu nahe liegende Sprachbild: Das nennt man wohl die Tradition mit Füßen treten. rik
Dunkle Romantik
Wer in Frankfurt eine Messe-Romanze sucht, der ist in diesem Jahr aufgeschmissen. Denn an rauschenden Festen, an Tanz, Gesang und fetten Buffets herrscht Mangel, da die großen Publikumsverlage ihr Geld zusammenhalten müssen, vermutlich um die nicht wie gewohnt rundlaufenden Druckmaschinen zu schmieren. Aber Romantik ist auch eine Altersfrage, als Dark Romance gibt es sie zuhauf, für Romantasy-Fans oder eben für New Adults sind ganze Hallen vorgesehen. Der Buchhandel feiert mit, während sich die Kritiker sehr alt fühlen und den jungen, neuen, euphorischen Lesern mit der Spaßbremse Brecht zurufen möchten: „Glotzt nicht so romantisch!“. rik
Die Krise
Irgendeine Krise gibt es immer, über die auf der Buchmesse geklagt werden kann, manchmal sogar mehrere gleichzeitig, dann ist die Rede von einer Polykrise. In diesem Jahr waren die Lieferengpässe der Verlage das bestimmende Thema der Krisengespräche. Prominentestes Beispiel: der Hanser Verlag, der Schwierigkeiten hatte, das Buch der Buchpreispreisträgerin Dorothee Elmiger nachzudrucken. Die Lieferengpässe, die entstehen können, wenn plötzlich ein Buch nachgefragt wird, etwa beim Literaturnobelpreis, gehen dieses Jahr über das Normalmaß hinaus: Viele Bücher, die zu Bestsellern wurden, hatten Wartezeiten von mehreren Wochen, so auch Nelio Biedermanns Roman „Lázár“.
Grund ist die Krise der Druckereien und der Fachkräftemangel. Zum allgemeinen Schwundtrend passt, dass es in Deutschland immer weniger Bucheinzelhändler gibt, wie das Statistische Bundesamt zu Beginn der Buchmesse bekannt gab: Die Zahl der Bucheinzelhändler ist innerhalb von fünf Jahren fast um ein Viertel gesunken. deli
Affirmation und Backhendl
Dieses Jahr wartet allein die Gerüchteküche üppig auf: Bei Suhrkamp auf der Brücke vorm possierlichen Holzhausenschlösschen hat man den herumgereichten Häppchen am späten Nachmittag tapfer widerstanden, in der Hoffnung auf ein saftiges Schnitzel später bei den Österreichern im Städel. Doch die ersten Bekannten berichten per Text-Message: In der weitläufigen Halle scharen sich hungrige Literaturbetriebsmassen um ein paar läppische Kartoffelsuppenkanonen. Ist das noch k.u.k.? Also auf in den Club Michel am Bahnhof. Dort gibt es nicht nur das leckerste Backhendl ever.
Auch in den Gesprächen in kleiner Runde geht es ans Eingemachte: Selbst Buchpreis-Shortlist-Titel, heißt es, verkaufen sich nur noch vierstellig. Und die Männer habe man völlig verloren. Besonders im populären Genre läsen nur noch Frauen, und zwar mit einer Erwartungshaltung, die an Taylor-Swift-Fans erinnere: Autorinnen sollten am besten zum Anfassen sein, Buchkäufe würden gemeinsam zelebriert, Signierstunden seien das Mindeste an Brimborium, was man als Verlag zu veranstalten habe. Literatur werde zunehmend als Wellness-Therapie wahrgenommen. Im frappierenden Unterschied zu früher, als Leser darauf hinfieberten, sich den Boden unter den Füßen wegziehen zu lassen, in einen Spiegel zu schauen, der ihnen ein Schreckensbild ihrer selbst zeigte. Flaubert, Nabokov, Houellebecq hätten heute schlechte Karten. Subversion ist over, Affirmation ist in. küv
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