Man könnte das Schreiben einer Serie auch als eine sehr spezielle Form von Unfallursachen- und -folgenforschung betrachten. Und den Schreibraum, in dem sich Autoren um den zugrunde liegenden Unfall versammeln, als Hangar, in dem die Überreste des verunfallten Flugzeugs, des havarierten Busses, solange zusammengesetzt werden, bis sich eine halbwegs konsistente Erklärung dafür ergibt, wie es zum Desaster kommen konnte.
Es dauert nicht lange, da wird in „Hundertdreizehn“ ein Bus in einen Hangar geschoben. Er ist – das hat man gesehen – des Nachts voll besetzt auf dem Weg nach Graz kurz nach dem Start ins Schlingern geraten. Der Fahrer hat – statt zu bremsen – Vollgas gegeben. Der Bus durchschlug die Leitplanke, ist als Geisterfahrzeug in einen Tunnel gerast, hat sich auf die Seite gelegt. Feuer, Wracks, Leichenteile. Ein halbes Hundert Menschen ist tot. Fünf haben überlebt.
Die Zahl Hundertdreizehn basiert auf einer Statistik des Verkehrsministeriums, nach der von einem Unfall elf Familienangehörige, vier enge Freunde, 56 Freunde und 42 Einsatzkräfte betroffen sind. Deren Leben sich in eine Zeit vor und nach dem Unfall teilt. Die mit Schuld und Verzweiflung leben müssen. Die Dinge von ihren Toten, ihren Verletzten, von sich selbst erfahren, die sie vielleicht besser nicht erfahren hätten.
Von diesen Dingen handelt „Hundertdreizehn“. Von Geheimnissen, von Ängsten, Traumata, von Doppelleben. „Hundertdreizehn“ ist eine Geschichte aus einem halben Dutzend Ermittlungen. Der Versuch herauszufinden, wie es kommen konnte, dass Theo, der Busfahrer, der erfahren war und die Strecke hätte blind absolvieren können, so derart die Kontrolle verlieren konnte, ist dabei einer von mehreren roten Fäden, von der die Hexalogie zusammengehalten wird.
Nun muss aber niemand fürchten, dass Arndt Stüwe, in dessen Hangar das Drehbuch entstand, und Rick Ostermann, der Stüwes Einzelteile zu einer der verblüffendsten Serien des Jahres zusammensetzte, größenwahnsinniger waren, als sie sind und allen 113 Beteiligten an ihrer Buskatastrophe eine eigene Geschichte widmen. Es sind ein gutes Dutzend. Das sind fast schon zu viele. Einen Mangel an Erzählambition jedenfalls mag man Stüwe und Ostermann nicht vorwerfen. Mit so vielen Geschichten wird da jongliert, soviel Verstecktes von so vielen Haupt- und Nebenfiguren aufgedeckt, soviel Seelenexkulpation betrieben, soviel ans Licht gebracht, das möglicherweise beigetragen hat zum Unfall und das Leben aller Beteiligten in Erzählgegenwart und Zukunft prägen wird, dass man doch sehr froh ist, dass Stüwe Petergabriel, dem ziemlich lustigen Hund des von Robert Stadlober gespielten Unfallermittlers Jan Auschra, keine sehr schwere Tierheimjugend angedichtet hat.
Alles besonders gut machen
Im Prinzip ist „Hundertdreizehn“ eine aufwendig verklammerte Kurzgeschichtensammlung, in der ein Ereignis, seine Ursachen und seine Folgen aus jeweils anderer Perspektive, aus der Sicht jeweils eines Beteiligten erzählt werden. Sozusagen der doppelte Rittberger der Seriendramaturgie. Ein Spezialfall des Anthologiemehrteilers.
Amerikaner machen das ganz gern. Deutsche können das durchaus. Friedemann Fromms „Tod von Freunden“ mit Jan Josef Liefers zum Beispiel folgte diesem Bauplan mit ziemlichem Erfolg. Stüwe und Ostermann wollen – das wäre aber schon das Einzige, was man ihnen wirklich vorwerfen kann – alles ganz besonders eindrucksvoll umsetzen. Jede Episode kreist um eine Figur. In jeder Episode werden die Geschichten der anderen, die mal länger, mal kürzer, mal fast gar nicht durchs Geschehen streifen dürfen, weiter ausgeleuchtet. Jede Episode hat ihr eigenes Thema, ihr eigenes Tempo, ihren eigenen Ton, ihre eigene Farbe.
Ineinandergeschachtelt werden ein Demenzdrama – Armin Rohde ist der Seniorchef eines Speditionsunternehmens, der zusieht, wie der Bus verunfallt, aber als Zeuge unzuverlässig ist, weil es allmählich Nacht wird in seinem Kopf; die Geschichte eines Doppellebens – dass Theo (Felix Kramer), der Busfahrer, Frau und Tochter sowohl in Berlin als auch in Graz hatte, ist neben der kriminologischen Untersuchung durch die ebenfalls traumatisierte Katastrophenexpertin Anne Goldmundt (Lia von Blarer) die eigentliche Klammer des Sechsteilers; die Geschichte einer katastrophal endenden Hochzeit zweier Frauen; die Geschichte einer Frau, die sich schuldig macht am Tod einer Mitfahrerin und sich verliebt in einen Verunfallten; der Alptraum einer Vater-und-Sohn-Geschichte, die einen Feuerwehrmann handeln lässt, wie er handelt. So geht „Hundertdreizehn“ auf jeweils eigenem Weg in die Untiefen eines jeden, der das Pech hatte in den Mahlstrom seiner Erzählung zu geraten.
Hang zur Überdosis
Immer wieder kehrt „Hundertdreizehn“ zurück zur Urkatastrophe. Immer wieder sieht man den Bus kippen, schliddern, hört die Schreie, sieht das Feuer, ist erschüttert. Trotzdem bleibt Ostermanns Inszenierung gerade in diesem Punkt sehr dezent, bedient keinen Katastrophentouristen-Voyeurismus, lässt einen erschüttert, aber ob seiner Schaulust nicht schuldig zurück. Etwas mehr Dezenz hätten allerdings die Zuspitzung, emotionale Ausgestaltung und Konstruktion der Episoden vertragen können.
Stüwe und Ostermann neigen zu einer gewissen Überdosis an Zutaten und an biografischen Verschränkungen, die noch dazu so offensichtlich dramaturgischen Gründen folgen, dass man gelegentlich allzu schnell die Absicht erkennt und verstimmt nach der Fernbedienung tastet. Es aber lässt. Weil man natürlich – das ist das geradezu toxische Grundprinzip von Anthologie-Serien – wissen will, wie das Mosaik tatsächlich aussieht, dem man bei seiner Entstehung am Ende stundenlang zugesehen hat, weil Stüwe und Ostermann ihre Fäden so gespannt halten, dass man nicht von ihnen loskommt.
Und weil sie sich eines Ensembles versichert haben, das noch den trockensten Polizeibericht zum Leben erweckt hätte. Wie Anna Schudt und Patricia Aulitzky etwa als Hinterbliebene des bigamistischen Busfahrers sich um die wahre Erinnerung an den Toten streiten wie die Mütter ums Kind im Kaukasischen Kreidekreis und sich allmählich näherkommen, ist ganz und gar wunderbar. Armin Rohde möchte man in seiner allmählichen Verlorenheit nur noch in den Arm nehmen. Und Lia von Blarer macht mit so wenig so viel aus ihrem Goldmundt-Subplot, dass man seine prinzipielle Überflüssigkeit (fast) gar nicht merkt.
Ganz nach dem Wilderschen Gesetz, dass jeder gute Film mit einem großen Knall beginnen und die Spannung anschließend allmählich steigern soll, endet „Hundertdreizehn“ mit einer – man kann es gar nicht anders nennen – veritablen Räuberpistole. Und der Erkenntnis, dass es die Deutschen tatsächlich hinkriegen mit der multiperspektivischen Spannungsserie. Und dass sie sich jetzt entspannter an die nächste Arbeit im Hangar machen können.
„Hundertdreizehn“ läuft in der ARD-Mediathek.
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