Es ist wieder Shabbat, und ich sitze wieder auf einer Parkbank. Dieses Mal bin ich nicht in Jerusalem, sondern in der Kleinstadt im Zentrum Israels, in der ich mittlerweile mit meinem Mann und unseren Kindern lebe. Die Sonne verabschiedet sich langsam, und ich schließe meine Augen, um ihre letzte Strahlkraft aufzusaugen. Da ist sie plötzlich wieder, meine Urgroßmutter Zdenka, die eigentlich schon lange nicht mehr bei uns, aber dennoch immer ein Teil von uns ist. Sie ist genau dieselbe wie bei unserem letzten Treffen vor fast zehn Jahren. Nur ich bin anders und für immer verändert. Ich kenne sie nur desillusioniert, und das bin ich mittlerweile auch.
„Und, war es das wert?“, fragt sie mit diesem Unterton, der mir bedeuten soll, dass sie mich gewarnt hatte. Und ganz Unrecht hat sie natürlich leider nicht. „Die Gefahr, die das Jüdisch-Sein mit sich bringt, gab es auch schon vor dem 7. Oktober“, erwidere ich. „Aber sie hat neue Dimensionen angenommen, beziehungsweise sind es leider altbekannte Dimensionen.“ Zdenka schüttelt verächtlich mit dem Kopf.
Auch damit hat sie nicht unrecht. Mein Leben ist seit dem 7. Oktober 2023 deutlich mehr in Gefahr. Viel schlimmer ist noch, dass das Leben meiner Kinder in Gefahr ist, einfach nur, weil wir Juden sind. Und die Einzige, die im Grunde dafür die Verantwortung trägt, bin ich. Ich hätte auf sie hören können und einfach Traditionen ohne „Koscher-Stempel“ leben können – und die Gefahr wäre gebannt gewesen. Eine schwere Bürde, wenn man weiß, dass ich mit jedem Molekül meines Körpers meine Kinder beschützen möchte.
„Was ist ein Leben wert, wenn man versteckt, wer man ist, und mit einer abgetrennten Seele leben muss?“, frage ich sie im Gegenzug. „Es ist besser als eins in dauernder Angst. Es ist besser als jenes einer trauernden Mutter“, gibt meine Urgroßmutter ungnädig zurück.
Ich will mir nicht mal vorstellen, wie das, was sie da beschreibt, sich anfühlen muss. Oft genug suchen mich solche Gedanken und Ängste heim. Das ist wohl der größte Sieg, den die Hamas in diesem Krieg über uns errungen hat: dass ich meine spielenden und lachenden Kinder nicht ohne Schmerz anschauen kann, weil ich immer wieder die fröhlichen Gesichter der Kinder sehe, die brutal ermordet wurden.
Als mein Mann vor ein paar Wochen ein Familien-Selfie machte, sahen wir so unbeschwert und glücklich aus, lauthals lachend. Unschuldig. Mein Mann musste kurz innehalten. Nach meinem fragenden Blick sagte er, dass er an die Familienfotos denken musste, die wir seit dem 7. Oktober immer wieder in den israelischen Medien sehen. Es gibt zwischen diesen Familien und unserer Familie nur einen einzigen Unterschied: Wir leben, während sie komplett ausgelöscht wurden. Ja, diese Unschuld und Unbeschwertheit, die süßen Momente des Lebens zu genießen, die hat die Hamas uns – zumindest manchmal – genommen.
Und ich weiß, dass es vielen anderen Müttern, aber auch Vätern ähnlich ergeht wie uns. „Ich verstehe dich jetzt besser. Ich musste selbst erst eine jüdische Mutter sein, um deine Sorgen zu verstehen“, sage ich. „Und? War es das wert?“, bohrt sie wieder. „Ja“, und meine Zuversicht kehrt zurück. „Ja, ich kenne und verstehe deine Ängste jetzt nicht nur, sondern ich lebe und erlebe sie. Jeden Tag.“
Genau wie meine Urgroßmutter Zdenka habe ich Angst vor dem Hass, der sich wie Gift durch alle Bereiche der Gesellschaft zieht. Mich schmerzen die antisemitischen Parolen, die an jede Hauswand geschmiert werden. Mich erschrecken die hasserfüllten Fratzen auf den Straßen Berlins und weltweit, die zur Ermordung von Juden aufrufen und körperliche Angriffe und brennende Synagogen zur Folge haben. Ich sorge mich um die hebräischen Namen meines Sohnes. Ich fühle mich ohnmächtig in dieser Lawine, die wir alle so klar auf uns zurollen sehen, die aber niemand aufhält. Wie alle nur unbeteiligt dabei zuschauen, wie wir darunter begraben werden.
Ich verabschiede mich von Nachbarn und Freunden, die sich kein einziges Mal bei mir gemeldet haben, von Kollegen, die plötzlich zu Mitläufern werden, um nicht auch im gesellschaftlichen Auge in Ungnade zu fallen, die mich plötzlich anfeinden oder den Kontakt abbrechen. Alles genau wie damals. Ich trauere mit unserem Volk, das sich von so vielen geliebten Menschen verabschieden muss. Ich sorge mich um meine jüdischen Freunde und ihre Kinder in der Diaspora, die sich eben genau dort zu Hause fühlen, aber dort nicht wirklich sicher sind. Ich kenne jetzt die Angst meiner Urgroßmutter, ob und wo man sich erkennbar zeigen kann. Überall gibt es judenfeindliche Demonstrationen, Hassparolen an Wänden und weltweit werden „Wanted“-Schilder mit Fotos und Namen israelischer Touristen verteilt, die auf Social Media zu unvorsichtig sind und sowohl ihren Armeedienst dort dokumentieren als auch ihre Reisedaten und Routen preisgeben.
Auch mein Mann hat wie die meisten Israelis in der Armee gedient, er hat keinen Zweitpass und das macht sorgloses Reisen derzeit unmöglich. Uroma Zdenka schaut mich mit bebender Unterlippe an: „Ich hab dich gewarnt! Und ich hab versucht, dich zu schützen.“ – „Aber Stařenka, du hast mich doch beschützt. Nur eben anders, als du es vielleicht beabsichtigt hast.“ Diese stolze Jüdin, die ich nie treffen durfte, mit der ich vieles gemeinsam habe und tief verbunden bin, schaut mich verwirrt an. „Deine Ängste waren die Erinnerung und die Mahnung in meinem Kopf, immer wachsam zu sein. Die Stimmung in der Gesellschaft zu spüren. Dank dir wusste ich immer, dass ich rechtzeitig gehen muss. Und es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen deiner und meiner Realität.“
„Und der wäre?“, fragt sie mit hochgezogener Augenbraue, auch etwas, dass wir beide gerne tun. „Wir haben Israel. Wir haben einen jüdischen Staat in unserer Heimat, ein Land, das uns mit seinen Söhnen und Töchtern schützt. Es ist nicht immer leicht hier, aber während du zu einer ungeschützten Minderheit gehört hast, sind wir hier die Mehrheit. Eine diverse, komplizierte, uneinige, diskutierende, erschöpfte, resistente, laute, wunderschöne Mehrheit. Und wir sind wehrhaft.“
Ich stehe von der Parkbank auf und gehe langsam auf unser Haus zu. Es wird friedlich von der untergehenden Sonne in dieses ganz besondere sorbetfarbene Orange getaucht. Über uns donnert der Himmel – israelische Jets, die wir nicht sehen können, denen wir aber gute Gebete hinterherschicken. Es schmerzt uns und macht uns traurig, aber wir sind dankbar für die Männer und Frauen, die uns beschützen. Sie kämpfen, obwohl keiner von ihnen Freude daran hat, im Krieg zu kämpfen. Sie würden lieber selbst zu Hause sein mit ihren Freunden und Familien, statt jeden Tag für ihr und unser Überleben zu kämpfen. Wir sind ihnen dankbar, dass wir nicht mehr darauf warten müssen, gerettet zu werden, sondern uns selbst retten. Etwas, das die Welt uns übel nimmt: dass wir uns zur Wehr setzen, statt geknechtet am Boden zu liegen.
Genau dieses Gefühl haben viele von uns bei den Bildern des koordinierten Angriffs in Amsterdam so schmerzhaft gespürt. Dabei ging es nicht nur vordergründig darum, Juden zu töten, sondern es ging darum, sie zu demütigen, sie zum Betteln zu zwingen. Genau das haben wir auch von unseren Vorfahren gehört und auf Fotos gesehen. Und das ist es heute, was uns antreibt: weiterzumachen, stark zu bleiben, zu kämpfen und schwere Opfer zu bringen. Denn wir wollen uns nie wieder demütigen lassen oder unterdrückt werden. Wer damit ein Problem hat, entlarvt sich selbst als das, was er ist: ein Mensch, der Juden am Boden sehen will.
Ich muss wieder an meine Urgroßmutter denken, die mich in meinen Gedanken eindringlich anschaut. So viel Schmerz musste sie erleben und überleben. Wie schlimm muss es sein, auf sich selbst, seine Herkunft und Traditionen stolz zu sein und all das aus Angst verbergen zu müssen? Wie ungesund ist es für die eigene Seele, sich immerzu verstecken zu müssen? Etwas, vor dem ich meine Kinder bewahren möchte. „Ich weiß nicht, ob es das wert war“, sagt sie, „aber ich sehe so viel von mir in dir. Du bist so unnachgiebig, selbstverständlich jüdisch, so stolz und strahlend. Auch wenn ich es nicht gerne zugebe, macht mich das sehr glücklich und sehr stolz, dich so zu sehen.“
Ich hoffe sehr, dass sie jetzt – egal, wo sie ist – meinen Kindern, ihren Ururenkeln, beim Spielen in unserem Garten zuschaut. Wie sie hebräische Worte durch die Luft rufen, während das schön-traurige Lied Amen al Ha’yeladim von dem israelischen Sänger Hanan Ben Ari leise im Hintergrund läuft. Worte, die meinen Körper jedes Mal mit Gänsehaut überziehen: „Ich bin immer noch gefangen in meinen Ängsten, dass ich es nicht schaffen werde, sie zu beschützen, sie zu retten, eine Kugel für sie abzufangen. Ich bete für meine Kinder, dass sie nicht meine Wunden erben, dass sie immer gesund sein werden.“
Sarah Cohen-Fantl, 1987 in Hamburg geboren, ist Enkeltochter des tschechischen Film-Regisseurs und Shoa-Überlebenden Tomas Fantl. Nachdem sie einer Ausstellung in Auschwitz einen Koffer mit dem Namen ihrer Urgroßmutter gefunden hatte, veränderte sie ihr Leben: Sie konvertierte zum Judentum, kündigte ihren Job, ließ sich scheiden und emigrierte nach Israel, wo sie sich ein neues Leben aufbaute.
Der voranstehende Text ist ein Auszug aus ihrem Buch „Wie alles begann und sich jetzt wiederholt. Meine jüdische Familie“. Bonifatius Verlag, 224 Seiten, 25 Euro.
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