Die Küche scheint kleiner zu werden, als würde der Raum selbst die Luft anhalten. Meine Mutter sieht mich an.

Sie weiß, was ich meine. Nicht nur Waffenlieferungen, nicht nur Drohnen oder Panzer für die Ukraine. Es geht um mehr. Es geht darum, ob ich selbst bereit bin, die Linie zu überschreiten – vom Zuschauen zum Handeln. Vom Denken zum Kämpfen.

„Du?“, fragt sie, ihre Stimme bricht. „Du willst da drüben stehen, mit einer Waffe in der Hand?“

„Ich weiß nicht, ob ich kämpfen würde“, sage ich ehrlich, meine Stimme leise. „Aber ich weiß, dass ich nicht hierbleiben kann, als wäre Nichtstun eine Antwort. Wenn ich gehe, dann nicht, um zu töten, sondern um zu helfen. Um zu zeigen, dass wir nicht alle wegschauen. Aber wenn es darauf ankommt …“ Ich stocke, die Worte wie Steine in meinem Mund. „Wenn es darauf ankommt, muss ich bereit sein. Ein guter Freund sagte mir mal, denke über das Kämpfen nach, solange du das noch aus freien Stücken tun kannst.“

Stille. Draußen schreit ein Kind nach seinem Ball, ein Lachen hallt durch die Straße. Frieden, so zerbrechlich wie Glas. Doch dieser Frieden, denke ich, ist kein Zufall. Er ist hart erkämpft, von Menschen, die vor uns entschieden haben, nicht wegzuschauen, die in der Normandie gelandet sind, die bis nach Berlin marschiert sind.

Die EU, Deutschland – sie sind nicht perfekt. Wir streiten, kritisieren, manchmal hassen wir, was in unseren Grenzen und an unseren Grenzen schiefgeht. Korruption, Bürokratie, Ungleichheit – wir sehen die Risse, und wir scheuen uns nicht, sie laut zu benennen. Aber wenn ich aus dieser Küche hinausschaue, auf die Kinder, die spielen, die Frauen mit Kinderwagen, die Jungen, die ohne Angst einem Ball nachjagen, dann weiß ich: Das, was wir haben, ist besser.

Besser als die kasachische Steppe. Besser als der Militarismus in Russland. Besser als die Angst in den Augen derer, die unter einem offenen Himmel leben, wo Bomben fallen.

Besser als die Welt da draußen.

Das ist es, was wir schützen müssen. Nicht aus Stolz, nicht aus Überlegenheit, sondern weil es verteidigungswert ist. Wehrhaft zu sein bedeutet nicht, blind zu gehorchen oder die eigene Kritik zu ersticken. Es bedeutet, im Inneren zu streiten, zu hinterfragen, zu fordern – und nach außen hin bereit zu sein, politische Differenzen beiseitezulegen, wenn die Freiheit bedroht ist. Es bedeutet, die Ukraine zu unterstützen, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten, weil ihr Kampf auch unser Kampf ist. Weil ihr Fall unser Fall wäre.

Vielleicht kämpfe ich nie. Aber ich werde nicht fliehen. Nicht vor der Frage, ob ich selbst eine Waffe in die Hand nehmen würde. Nicht vor der Verantwortung, die Ukraine zu unterstützen, mit allem, was wir haben. Nicht vor der Wahrheit, dass unser Zögern diesen Krieg genährt hat – und dass wir jetzt, trotz aller Ängste, handeln müssen, um das zu schützen, was uns bleibt. Unsere Freiheit. Unsere Zukunft. Uns selbst.

Meine Mutter richtet sich langsam auf. Die Schultern straff, der Blick unverrückbar. Ihre Augen fixieren mich – nicht bittend, nicht fragend, sondern durchdringend, als wollten sie etwas aus mir herausbrechen, was ich selbst noch nicht ganz fassen kann.

„Sag es mir direkt, Artur“, sagt sie. Ihre Stimme hat diesen Ton, den sie früher nur benutzte, wenn sie mich wirklich meinte – scharf wie das Messer, das noch neben der halben Zwiebel auf dem Schneidebrett liegt. „Willst du an der Front verrecken? Für was?“

Es ist kein Schrei, kein Weinen. Es ist härter. Nüchterner. Als hätte sie schon alles durchlebt, was ich mir gerade erst ausmale. Als wüsste sie längst, wie kalt der Boden unter einem Körper wird, wenn niemand kommt. Draußen rollt ein Kinderwagen vorbei. Die Sonne steht tief. Ihre Silhouette, von hinten beleuchtet, ist die einer Frau, die alles gegeben hat – und nicht bereit ist, auch noch ihren Sohn herzugeben.

Die Frage trifft mich. Ich sehe meinen Cousin, wie er lacht, mit seinem Spielzeuggewehr, das längst echt geworden ist. Und ich sehe die Kinder da draußen, auf der Straße, die noch lachen können, weil hier kein Himmel brennt. Noch nicht.

„Ich will nicht sterben“, sage ich, meine Stimme ruhig, aber fest. „Aber wenn es darauf ankommt, würde ich mich wehren. Ich würde kämpfen, damit niemand unter Besatzung leben muss. Damit diese Kinder da draußen nicht lernen müssen, was Angst wirklich bedeutet. Damit das, was wir hier haben – diese zerbrechliche Freiheit – nicht in Trümmern endet.“

Sie schweigt, ihre Hände zittern leicht, als sie die Tischkante loslässt. Der Raum ist still, nur das ferne Lachen der Kinder dringt durch das Fenster. Ihre Augen suchen meinen Blick, und ich sehe darin keinen Vorwurf mehr, sondern etwas Tieferes – die Angst einer Mutter, aber auch die Erkenntnis, dass Flucht nicht mehr reicht. Nicht für mich. Nicht für uns.

„Du bist mein Sohn“, sagt sie leise, fast ein Flüstern.

Vielleicht kämpfe ich nie. Aber ich werde nicht fliehen. Nicht vor der Frage, ob ich für die Freiheit anderer sterben würde. Nicht vor der Verantwortung, die Ukraine zu unterstützen, um das zu schützen, was wir hier in Deutschland und der EU haben. Nicht vor der Wahrheit, dass unser Zögern diesen Krieg genährt hat – und dass wir jetzt handeln müssen, um Leben zu retten, um uns nicht zu verlieren.

In einer ruhigen Minute, als der Kaffee längst kalt ist und meine Mutter schweigt, rufe ich meinen Vater an. Es ist später Nachmittag. Ich schaue aus dem Fenster. Kinder spielen. Die Welt wirkt unberührt. Ich wähle seine Nummer.

Er hebt schnell ab.

„Na, lebst du noch?“

„Klar. Und du?“

„Wie immer“, sagt er. „Was gibt’s?“

„Ich wollte dich was fragen.“

Kurzes Schweigen.

„Frag.“

„Würdest du kämpfen?“

Am anderen Ende der Leitung knackt es leise. Dann:

„Wie kommst du jetzt darauf?“

Ich atme durch.

„Weil ich darüber schreibe. Weil ich mich frage, ob ich’s könnte. Und weil ich manchmal nicht mehr weiß, ob ich noch klar im Kopf bin – oder einfach nur verrückt werde.“

Er lacht leise, kehlig, wie er es immer tut, wenn er etwas nicht sofort ernst nehmen will.

„Verrückt sind wir alle ein bisschen. Sonst wären wir nie gegangen.“ Dann wird er wieder ruhig.

„Ich war in der kasachischen Armee. Ich weiß, was Gewalt im Militär bedeutet. Es ist kein Spiel.“

Pause.

„Aber ja. Ich würde kämpfen. Für ein Land, das uns aufgenommen hat, obwohl wir nicht viel zu bieten hatten. Für ein Land, das euch zur Schule gehen ließ, ohne euch zu fragen, ob ihr dazugehört. Für ein Land, das mir Arbeit gegeben hat, als ich nur meine Hände hatte. Es war nie perfekt – aber es war gerecht. Meistens jedenfalls. Mehr als alles, was wir davor kannten.“

Ich halte das Telefon fester.

„Ich weiß nicht, ob ich’s könnte“, sage ich.

„Du denkst zu viel“, sagt er. „Wenn’s so weit ist, tust du, was du tun musst. So war’s immer.“

„Und wenn ich’s nicht schaffe?“

„Dann bist du kein Feigling. Dann bist du immer noch ein Mensch. Aber überleg gut, wem du was schuldest. Und wem du was verdankst. Nicht jeder hat das Glück, etwas verteidigen zu dürfen.“

Der voranstehende Text ist ein Auszug aus dem neuen Buch von Artur Weigandt: „Für euch würde ich kämpfen. Mein Bruch mit dem Pazifismus“. C.H. Beck, 208 Seiten, 18 Euro.

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