Er hat die Grenzen der Fotografie erweitert und unseren Blick auf die moderne Welt geprägt: Andreas Gursky. 1955 in Leipzig geboren, wuchs Gursky in Düsseldorf auf. Nach einem Studium der Visuellen Kommunikation in Essen wechselte er nach Düsseldorf und wurde Meisterschüler in der Fotografieklasse von Hilla und Bernd Becher an der Kunstakademie. Von 2010 bis 2018 lehrte er dort als Professor für Freie Kunst. Am 4. November 2025 wird Andreas Gursky der Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen. In der Londoner Galerie White Cube zeigt er bis zum 8. November 2025 neue, teils monumentale Bilder – entstanden sind sie unter anderem in einem Stahlwerk, auf einem Gletscher und einer Konzertbühne. 

Exklusiv wird Andreas Gursky am 13./14. Dezember 2025 die Ausgabe der WELT AM SONNTAG gestalten.

WELT: In Ihrer neuen Schau sieht man mit den Augen eines Popstars in die Menge. Sie haben schon Madonna, die Toten Hosen und Feiernde der Mayday-Partys fotografiert. Was war diesmal anders, Herr Gursky?

Andreas Gursky: Diesmal bin ich nicht selbst auf den Musiker zugegangen – er ist auf mich zugekommen, weil er Fan meiner Arbeit ist. Wir haben uns in Düsseldorf getroffen und gleich gut verstanden. Ich hatte sofort eine Bildidee, und er erlaubte mir, mich auf der Bühne frei zu bewegen. Das war entscheidend: Man blickt im Bild mit seinen Augen in die Masse. Technisch war das sehr komplex. Ein solches Bild kann man nicht in einem Schuss machen, sondern muss es aus vielen Einzelaufnahmen zusammensetzen.

WELT: In Ihren früheren Konzertbildern war die Distanz zum Star groß, hier ist sie praktisch nicht vorhanden.

Gursky: Genau. 2001 war Madonna winzig klein – jetzt steht der Sänger monumental im Vordergrund. Und das Publikum, fast nur junge Frauen, strahlt ihn an. Technisch geht es um die Verbindung von Detailgenauigkeit und Weite.

WELT: Warum ist es so schwierig, ein Konzertbild zu machen?

Gursky: Man könnte es mit dem iPhone machen, weil das vieles automatisch korrigiert. Aber so ein Bild hat dann nur 35 MB, und ich brauche eher zwei Gigabyte. Da kann man nicht den Künstler im Vordergrund ganz scharf abbilden und gleichzeitig die Masse im Hintergrund bis in die letzte Reihe – das ist technisch nicht möglich. Deshalb musste ich viele Einzelaufnahmen machen, die dann puzzleartig zu einem Ganzen zusammengesetzt wurden.

WELT: Über den Namen des Popstars – der britische Sänger und Schauspieler Harry Styles – wurde vor Eröffnung der Ausstellung im Oktober 2025 Stillschweigen bewahrt. Hatten Sie Angst, dass die Galerie von Fans gestürmt wird?

Gursky: Wenn man immer schon alles vorher preisgibt, kennt das Publikum die Bilder schon, wenn es die Ausstellung besucht. Aber das ist ja gerade das Spannende an einer Galerieausstellung – man zeigt neue Arbeiten, die in keiner Weise abgesegnet sind. Man weiß nicht, wie sie ankommen. Das Motiv, über das wir sprechen, ist ein zentrales Bild. Wobei ich sagen muss: Es steht gar nicht mehr so im Fokus meiner Aufmerksamkeit, weil es längst fertig ist. Wir haben uns vor zweieinhalb Jahren getroffen, Styles und ich.

WELT: Wie sehen Sie Ihre Bilder aus der vordigitalen Zeit heute?

Gursky: In der Ausstellung sind auch Motive vertreten, die ich neu interpretiert habe. „Montparnasse II“ hatte ich im Sommer erstmals in Paris bei Gagosian gezeigt (eine Aufnahme eines Wohnblocks im Stadtteil Montparnasse, Anm. d. Red.) Wenn man das mit „Montparnasse“ von 1993 vergleicht, liegen Welten dazwischen. Anfang der Neunziger habe ich noch analog gearbeitet: Das Bild wurde gescannt, in der Bildbearbeitung bearbeitet, anschließend ein neues Negativ ausbelichtet und davon schließlich der Abzug erstellt. Durch diese vielen Reproduktionswege entstand eine gewisse Unschärfe und Körnigkeit, die per se nicht schlecht ist. Aber wenn man die Bilder miteinander vergleicht, wirkt das von 2025 fast, als wäre es mit einer Röntgenkamera fotografiert.

WELT: Die Kameras entwickeln sich weiter, lösen immer besser auf. Gleichzeitig wird es für Künstler immer schwieriger, großformatige Fotos zu produzieren.

Gursky: Wenn man in diesen Formaten arbeitet, ist das alles irrsinnig teuer. Die Acrylscheiben etwa kommen aus Japan, der Transport ist aufwendig. Und wie mir die Labore bestätigen, gibt es nur noch sehr wenige Künstler, die in solchen Dimensionen arbeiten.

WELT: Sie haben auf der ganzen Welt fotografiert, sind aber immer wieder auch in Ihrer Heimat fündig geworden – mit Motiven wie „Rhein“ oder „Dortmund“. Diesmal waren Sie in Duisburg. Was gab es dort zu sehen?

Gursky: Ich habe zuletzt sehr intensiv bei Thyssenkrupp fotografiert, im Hochofenwerk Schwelgern. Dieses Bild habe ich erst vor wenigen Tagen in fertigem Zustand gesehen, im Kopf hatte ich es aber schon länger. Ich bin im Norden von Düsseldorf aufgewachsen und sah als Kind oft den rot verfärbten Himmel über den Duisburger Stahlwerken. Später dachte ich: Diesen Ort müsste man einmal besuchen. Vor drei Monaten war ich endlich dort.

WELT: Jeder kennt Fotos, auf denen Männer in schwerer Schutzkleidung mit flüssigem Stahl hantieren.

Gursky: Das ist der sogenannte Abstich, bei dem der Stahl aus dem Ofen kommt. Solche Bilder kennt jeder – sie sind spektakulär, aber auch abgegriffen. Diese Erwartungshaltung wollte ich nicht erfüllen.

WELT: Ihre Arbeit „Thyssenkrupp, Duisburg“ strahlt Ruhe und Erhabenheit aus. Sie zeigt einen Block aus glühendem Stahl. Was ist das genau?

Gursky: Eine Bramme, zwölf Meter lang. In dem Stahlwerk gibt es eine sogenannte Wärmestraße. Entlang eines Transportbands stehen mehrere Hochöfen nebeneinander. Etwa alle zehn Minuten öffnet sich an einem dieser Öfen ein Schlitz, und eine Bramme wird herausgeschoben – Stahl, der nicht mehr flüssig ist, aber noch über tausend Grad heiß und entsprechend rot-orange leuchtend. Sie liegt dann kurz vor dem Ofen, bevor sie über das Förderband weitertransportiert wird und langsam abkühlt. Diese Brammen haben eine fast archaische Präsenz. Insgesamt haben wir rund sechzig davon fotografiert.

WELT: Deutschland ist einer der größten Stahlerzeuger der Welt, aber die Branche befindet sich wegen der steigenden Energiepreise in einer tiefen Krise. Beschäftigt Sie das?

Gursky: Die Fotografie zeigt den Moment, in dem sich der Ofen wieder schließt. Das ist für mich fast ein Symbolbild für den Zustand der Industrie. Der Wohlstand der Nachkriegsgesellschaft basierte auf der Förderung von Kohle und der Produktion von Stahl. Wenn man sich vorstellt, dass das vielleicht in absehbarer Zeit zu Ende geht, ist das ein beunruhigender Gedanke.

WELT: Sie haben schon früher Produktionsstätten und Handelsorte fotografiert, die von der Globalisierung erfasst werden – Börsen, Häfen, Boutiquen. Kehren Sie jetzt zum Ursprung zurück, zur Schwerindustrie?

Gursky: Formal knüpft „Thyssenkrupp“ an das leere „Prada“-Regal von 1996 an. Der Hintergrund ist dunkel-anthrazitfarben, im unteren Drittel erscheint die orangefarbene Bramme. Was technisch ein Zwischenzustand der Stahlproduktion ist, artikuliert sich im Bild als ästhetische Struktur, die den geschulten Betrachter unmittelbar an die Prinzipien der Minimal Art denken lässt.

WELT: Wie sehr muss man eine solche Aufnahme bearbeiten?

Gursky: Oft ist es so, dass ich nach einem Termin die Daten sofort in den Computer lade und in Windeseile ein Layout zusammenbaue – einfach, um ein Gefühl für die Materialität und Qualität der Bilder zu bekommen. Dann beginnt die Reflexion: Reicht das wirklich für ein Bild, oder muss ich es noch mit weiteren Details aufladen?

WELT: War das bei der Bramme auch so?

Gursky: Ich habe es ausprobiert, aber gemerkt, dass ich mich verschlechtere. Also bin ich wieder zum Ursprungsbild zurückgekehrt.

WELT: In Ihrer Londoner Schau sind zehn neue Bilder zu sehen. Sind Sie schneller geworden?

Gursky: Für meine Verhältnisse ist das enorm, ja. Ich habe wirklich intensiv gearbeitet und mich an einem Bild fast verhoben. Seit zwei Jahren beschäftige ich mich mit den Architekturmodellen von Herzog & de Meuron. Aber unter dem Zeitdruck habe ich gemerkt, dass ich all meine Energie in dieses eine Bild stecke und die anderen nicht fertigbekomme. Also habe ich beschlossen, es vorerst zurückzustellen – einfach, um den Druck rauszunehmen. Das war eine regelrechte Befreiung. Danach lief alles wie von selbst.

WELT: Stimmt es, dass Sie manchmal auch mit dem Handy fotografieren?

Gursky: Wenn ich an einem Werk Monate, manchmal Jahre arbeite, empfinde ich es als wohltuend, zwischendurch auch mit dem iPhone zu fotografieren. Das mache ich ohnehin oft. Während der Arbeit an der Ausstellung ist mir ein gefaltetes Handtuch in eine mit Wasser gefüllte Badewanne gefallen – das sah so eigenartig aus, dass ich es sofort fotografiert habe. Dieses iPhone-Bild wird nun ebenfalls in der Ausstellung gezeigt, und es ist mir sehr wichtig.

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