Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann ist die Kunst deren Mutter. Die symbiotische Beziehung zwischen dem Furchtbaren und dem Schönen, zwischen Gewalt und Gefühl, Kunst und Kampf, zieht sich wie ein roter Faden durch die Kulturgeschichte. Igor Strawinskys prophetisches „Le sacre du printemps“ am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Georg Trakls an der galizischen Front ins Heft gekritzelte Gedichte, der Burgunder trinkende Ernst Jünger vom Dach des Pariser Hotels Raphael aus die in Sprengwolken aufgehenden Seine-Brücken betrachtend. Und als ein knappes Jahr nach Jüngers berühmter Burgunder-Szene die Amerikaner im Juli 1945 in der Wüste New Mexicos testweise die erste Atombombe zünden, reagiert Robert Oppenheimer aus dem ersten Impuls heraus mit einem Zitat aus dem hinduistischen Gedichtzyklus der Bhagavad Gita: „Jetzt bin ich der Tod geworden, der Zerstörer der Welten.“
An genau dieser Schnittstelle zwischen atomarer Bedrohung und Literatur setzt der Historiker Armin Wagner an. In seinem jüngst erschienenen Buch mit dem eingängigen Titel „Das ABC der Apokalypse“ beleuchtet der ehemalige Direktor des Militärhistorischen Museums in Dresden die Literaturgeschichte der atomaren Bedrohung seit 1945. So habe der Eintritt ins nukleare Zeitalter zu einer Konjunktur dystopischer Vorstellungen über die Zukunft geführt und die Kernwaffenproblematik zum öffentlichen Thema des Kulturlebens gemacht – „vom Sachbuch und Roman über den Spielfilm bis zu Popsongs und Online-Wargaming.“
„Innerhalb einer Millisekunde verdampft zu werden, ist kein Abenteuer“
Dabei macht Wagner eingangs klar, dass der literarische Anspruch der von ihm untersuchten Werke stark schwankt, versierte Dichter vom Schlage eines Jünger oder Trakl finden sich nicht darunter. Stattdessen beleuchtet der Band – der Untertitel „NATO-Offiziere erzählen den Dritten Weltkrieg“ deutet es an – Werke, deren Autoren zuvor an der Schnittstelle zwischen Politik und Militär tätig waren. So entstanden insbesondere in der Hochphase des Kalten Kriegs in den 1970er-Jahren eine ganze Reihe Bücher, die Kriegs-Szenarien zwischen Nato und dem Warschauer Pakt entwarfen. Diese Bücher verwebten faktenbasierte Sachdarstellungen und die Fachexpertise von „Insidern“ mit Fiktionen und teils billiger Kolportage über den nächsten großen „war-to-come“.
Wagner betont, dass es in den Thrillern der 1970er und 1980er vornehmlich darum ging, eine nukleare Eskalation zu verhindern. Dies lag vor allem in einem handwerklichen Dilemma vieler Autoren begründet, da „nach der Vernichtungsgewalt eines atomaren Infernos ein Vakuum der Handlung“ drohte. Wagner zitiert hier Paul Brians, der bereits 1987 in seinem Buch „Nuclear Holocaust“ anmerkte: „Innerhalb einer Millisekunde verdampft zu werden, ist kein Abenteuer. Es ist noch nicht einmal eine Erfahrung.“
Die Sowjets am Ijsselmeer
Als Schlüsselwerk identifiziert Wagner dabei den 1978 erschienenen Roman „Der Dritte Weltkrieg“ des ehemaligen britischen Viersternegenerals Sir John Winthrop Hackett. Das in einer Gesamtauflage von weltweit drei Millionen Exemplaren erschienene Buch verortete den Hauptschauplatz eines drohenden Ost-West-Konflikts in erster Linie im damaligen Westdeutschland. Hackett, der im Zweiten Weltkrieg die britischen Fallschirmjäger in der „Operation Market Garden“ bei Arnheim befehligte, lässt den Krieg in der damals nahen Zukunft beginnen, und zwar – 1914 lässt grüßen – in der ersten Augustwoche 1985 auf dem Balkan. Seinem Szenario zufolge marschieren nach Ende der Herrschaft Titos sowjetische Truppen in Jugoslawien ein, was die USA nicht tolerieren und Marineinfanterie an die Adriaküste verlegt.
Binnen 24 Stunden stehen die US-Verbände im Kampf mit den Sowjets, die zunächst die Oberhand haben. Innerhalb einer Woche stößt die Rote Armee in die westliche Verteidigung hinein, marschiert durch die norddeutsche Tiefebene und das Ruhrgebiet bis in die Niederlande zur Maas und dem Ijsselmeer. Südlich davon kann die Nato auf der Linie Eindhoven – Venlo – Paderborn halten, Krefeld wird zu einem Ankerpunkt der westlichen Verteidigung. Erst als wenige Tage später US-Verbände zur Verstärkung in Europa ankommen, wird der Wendepunkt erreicht, die Nato gewinnt die Oberhand und die östlichen Truppen ziehen sich geordnet zurück.
Die Lehre – oder je nach Sichtweise das agitatorische Element – von Hacketts Buch fasst Wagner wie folgt zusammen: „Damit es alle Leserinnen und Leser auch wirklich begreifen, betont Hackett noch einmal, dass der Erfolg für die Nato nur möglich war, weil sie in den letzten fünf Jahren mehr für ihre Verteidigung getan hatte.“ Andernfalls wären die Russen „überall an den Rhein vorgestoßen“, wie Hackett es damals unverblümt formulierte, „das westliche Bündnis wäre auseinandergebrochen und die Bundesrepublik Deutschland brutal ausgelöscht worden.“ Damit rekurrierte Hackett auch auf den sogenannten „Fulda Gap“, die geostrategische Schwachstelle der Nato während des Kalten Kriegs, die mit der Osterweiterung durch die sogenannte „Suwalki-Lücke“ zwischen Polen und Litauen abgelöst wurde.
Und die nukleare Bedrohung? In Hacketts Bestseller setzt keine Seite ihr atomares Potenzial unmittelbar auf dem Gefechtsfeld ein, doch angesichts der drohenden Niederlage werfen die Sowjets eine Atombombe auf Birmingham ab. Ja, nicht London oder Manchester, sondern Birmingham. Die Arbeiterstadt galt als Zentrum der englischen Waffenproduktion, lag nahe genug an der Hauptstadt, aber war im Gegensatz zu London nicht so sehr englisches Symbol nationaler Identität, als dass es den Widerstand und das Vergeltungsbedürfnis des Westens nur noch verstärkt hätte. Dementsprechend verzichtet die Nato bei Hackett auf eine totale Mobilmachung gegen Moskau, sondern verfährt nach dem Motto „Quid pro quo“ – und wirft als Reaktion „nur“ eine Atombombe auf das sowjetische Minsk, heute Hauptstadt von Belarus.
Beleuchtete Hackett vor allem den politisch-militärischen Komplex, legten andere Autoren ihren Fokus auf die „Heimatfront“ im Kalten Krieg. So beklagte etwa der französische Offizier Guy Doly in „Wenn die Russen angreifen …“ (1979) die vermeintlich wohlstandsgesättigten und kommunistisch unterwanderten Gesellschaften Westeuropa. In ein ähnliches Horn blies zuvor bereits der belgische Generalmajor Robert Close („Europa ohne Verteidigung? 48 Stunden, die das Gesicht der Welt verändern“, 1976).
Close sah eine der Hauptursachen für die Unterlegenheit der Nato-Staaten gegenüber dem Warschauer Pakt in „einer Abneigung gegen den Wehrdienst und die Rekrutierung, mit einer Minderung der patriotischen und nationalistischen Gefühle zugunsten eines wachsenden Internationalismus und Kosmopolitismus“. Die Jugend sei „empfänglich für hochherzige, aber nicht immer realistische Thesen, stellt sich gegen die herkömmliche Ordnung, ohne notwendigerweise neue Modelle vorzuschlagen, die wirksamer und zugleich realisierbar wären“, konstatierte Close. Eine so bissige wie zugleich erstaunlich aktuell klingende Zeitgeist-Kritik.
Der Atompilz als Psycho-Waffe
Nach dem Ende des Kalten Kriegs verzeichnet Wagner für die 1990er- und 2000er-Jahre zunächst einen Rückgang dieser speziellen Art von „Apokalypse-Literatur“. Doch mit dem rasant zunehmenden Eifer Moskaus bezüglich seiner „Sammlungspolitik“ von angeblich russischer Erde – angefangen mit der Intervention in Georgien 2008 –, erlebt das literarische Genre seit Mitte der 2010er-Jahre ein Revival.
In „2017 – War with Russia“ nimmt etwa der frühere Nato-Oberbefehlshaber in Europa Richard Shirreff den russischen Einmarsch auf die Krim als Blaupause für sein Kriegs-Szenario. In seiner 2016 erschienenen Fiktion entfacht Russland zunächst in der Ostukraine einen Brandherd, um einen Landkorridor vom eigenen Territorium zur Krim zu öffnen. Wegen der Neutralität der Ukraine sind den Nato-Staaten die Hände gebunden. Zugleich ziehen die Russen im Baltikum die Eskalationssschrauben an, Moskau schürt politische Unruhen, ermordet in „False Flag“-Aktionen russische Frauen in Lettland, ehe es das gesamte Baltikum mit einem massiven Cyberangriff überzieht.
Als Russland sodann eine konventionelle Invasion des Baltikums lanciert, reagieren die Nato-Staaten zunächst zögerlich, allen voran Deutschland, doch schließlich erobert der Westen das Baltikum zurück. Shirreff im Ton raunenden Pathos’: „Deutschland, für so lange Zeit die pazifistischste Nation in der Nato, war nun dabei, den Einsatz von Gewalt zu sanktionieren (…). Nun, einmal mehr, rollten ‚panzer‘, mit schwarzen Kreuzen markiert, Richtung Osten. Dieses Mal würde es in Diensten der Freiheit, und nicht der Besatzung sein.“
Wie bei Hackett gut 40 Jahre zuvor, werden bei Shirreff Nuklearwaffen vornehmlich als Mittel zur politischen Erpressung eingesetzt. Entsprechend bleibt es bei der allgegenwärtigen Drohung des Kremls, bei einem Rückeroberungsversuch der baltischen Staaten den Erstschlag auszuführen – der Atompilz als Psychowaffe.
Von Tauroggen über Rapallo bis Nord Stream II
„Das ABC der Apokalypse“, das in der 2017 begründeten Reihe „Krieg und Konflikt“ im Campus-Verlag erscheint, besticht durch seine herausragende Rechercheleistung. Der Band legt den fiktionalisierten 3. Weltkrieg unter dem Menetekel der Atombombe erschöpfend dar und zeigt angesichts der Weltlage Tendenzen in Richtung eines Revivals der „Nuclear Culture“ auf.
Dabei verliert Wagner nie den wissenschaftlichen Blick auf die mitunter propagandistisch anmutenden Werke. So lässt er auch kritische Stimmen wie den früheren Stabsoffizier der Bundesluftwaffe und späteren Friedensaktivisten Alfred Mechtersheimer zu Wort kommen, der Hacketts Buch seinerzeit als „Produkt antikommunistischer Fantasie“ bezeichnete, das in Teilen „von der Rüstungsindustrie verfasst sein könnte, um die Notwendigkeit verstärkter Aufrüstung zu begründen.“
Ohne sich in Details zu verlieren, geht Wagner dabei auch auf zahlreiche Hintergründe ein, etwa auf den im Titel anklingenden Begriff der „ABC-Waffen“. So seien die Kategorien „atomar“, „biologisch“ und „chemisch“ mittlerweile veraltet, vielmehr stehe das „C“ heute für „Cyber“ und ohnehin spreche die Fachwelt heute von sogenannten „CBRN“-Waffen. Die Bezeichnung steht für „Chemisch (oder ‚Cyber‘) – Biologisch – Radioaktiv – Nuklear“ und wird dem Umstand gerecht, dass Radioaktivität auch abseits von Nuklearwaffen eingesetzt werden kann, etwa als mutwillige Freisetzung von Strahlung aus Kernkraftwerken. Man denke etwa an das umkämpfte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja.
An anderer Stelle kommt Wagner auf die „deutsche Frage“ zu sprechen, die in den 1970ern und 1980ern zahlreiche hohe Nato-Militärs beschäftigte. Diese befürchteten, ein wiedervereinigtes Deutschland „könne sich unter dem Credo der Entspannungspolitik auf ein neutralistisches Sonderarrangement mit dem Osten einlassen.“ Im ausführlichen, aber nie überladen wirkenden Fußnotenapparat zeigt Wagner eine deutsche Traditionslinie von „Schaukelpolitik“ gegenüber Russland auf. Diese reiche von den Konventionen von Tauroggen (1812) und von Alvensleben (1863) über den Vertrag von Rapallo (1922) bis hin zu jener von Angela Merkel vorangetriebenen Energiekooperation mit Moskau namens „Nord Stream 2“, mit der sich Berlin – hier zitiert der Autor seinen Historikerkollegen Jan Claas Behrends – „zum Komplizen der negativen Ukrainepolitik Putins“ gemacht habe.
„In allen Zeitungen findet man die Bilder von Bikini“, notiert Max Frisch im Juli 1946 anlässlich der Atomwaffentests auf den Marshallinseln in sein Tagebuch. „Die Ziegen, die diesmal die Menschen vertraten, leben sogar und käuen ihr Futter, als wäre nichts geschehen; die Affen vertragen es schon weniger.“ Dann fügt er lakonisch hinzu: „Die Sintflut wird herstellbar (...). Am Ende unseres Fortschrittes stehen wir da, wo Adam und Eva gestanden haben; es bleibt uns nur noch die sittliche Frage.“
Armin Wagner: Das ABC der Apokalypse – NATO-Offiziere erzählen den Dritten Weltkrieg. Campus Verlag, 455 Seiten, 49 Euro
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