Das Ende der Welt ist nah, wie aber kann man davon erzählen? Indem man den Augenblick festhält, der dem Ende vorausgeht, die letzten Minuten einer gedankenlosen, alltäglichen Routine: ein Kommandant auf der Raketenstation in Alaska, der Beziehungsstress hat und seinen Untergebenen anraunzt, den Arbeitsplatz von Chipskrümeln zu säubern. Eine Offizierin im Weißen Haus, die die neue Kollegin an der Essensausgabe arrogant herunterputzt. Kinder werden zur Schule gebracht, Partner mit schnellem Kuss verabschiedet, die aktuellen Sportereignisse kommentiert.
Kleine Boshaftigkeiten oder Nettigkeiten – das Leben halt, das erst dann als kostbar wahrgenommen wird, wenn es vorbei sein soll. Nicht in Jahren oder Jahrzehnten, nicht in Wochen, nicht einmal von heute auf morgen, nein, von jetzt auf gleich. In weniger als 20 Minuten wird eine vom Pazifik aus gestartete Interkontinentalrakete das amerikanische Festland erreichen. Die ersten noch ungläubigen Reaktionen weichen bald der schockhaften Erkenntnis, dass der x-fach geübte Ernstfall tatsächlich eingetreten ist. Aus den Profis eines hochpräzise funktionierenden Apparats werden Menschen, denen binnen Minuten der Schrecken ins Gesicht geschrieben steht.
Schnell steht fest: Die Rakete wird im Großraum Chicago einschlagen, die geschätzte Opferzahl liegt bei fast zehn Millionen Menschen, Folgeschäden durch Fallout sind abhängig von der Windrichtung. Das Raketenabfangsystem mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von 60 Prozent, die letzte Hoffnung, versagt. Der verzweifelte Verteidigungsminister (Jared Harris) tobt: „50 Milliarden für einen Münzwurf!“ Was nun noch bleibt, ist Beten, Abschiednehmen und die Vorbereitung des Gegenschlags.
Kathryn Bigelow, die Kino-Spezialistin für Härtefälle des militärisch-politischen Komplexes („The Hurt Locker“, „Zero Dark Thirty“), hat nun in „A House of Dynamite“ den Ausbruch des Dritten Weltkriegs als Psychodrama inszeniert. Dreimal läuft der Countdown erbarmungslos und mit schicksalhafter Unabänderlichkeit herunter, dreimal erzählen Bigelow und Drehbuchautor Noah Oppenheim dieselbe Geschichte aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln. Das Gesamtbild entsteht auf der Monitorwand der Videokonferenz, die militärische und politische Kommandostellen, Geheimdienste, Berater und natürlich POTUS zusammenschaltet, wobei der weltenlaufentscheidende Mann erst aus einem PR-Auftritt bei einem Highschool-Basketballteam herausgeholt werden muss.
Erst im dritten Durchlauf bekommt die Stimme mit schwarzem Monitor ein Gesicht. Idris Elba spielt den US-Präsidenten als einen sympathisch bodenständigen, überlegten, aber von seiner Verantwortung nachvollziehbarerweise überforderten Gewissensmenschen. Obama ist klar das Vorbild, was durch seine Telefongespräche mit der First Lady verstärkt wird, die gerade in Afrika auf einer Safari unterwegs ist.
Stets als Schatten begleitet den Präsidenten der junge Oberstleutnant Reeves (großartig-beflissen: Jonah Hauer-King) mit dem Atomkoffer. Die Generalität wartet auf Befehle. Der Präsident will Rat, doch Reeves hält nur Optionen bereit – „ich nenne sie ‚rare‘, ‚medium‘ und ‚well-done‘“. Das Handbuch für den Atomkrieg ist idiotensicher.
Der Fokus liegt auf den Absurditäten dieser nuklearen Logik, die jahrzehntelang die Welt vor einem Dritten Weltkrieg bewahrte, sie aber binnen Minuten in Schutt und Sondermüll verwandeln könnte. „Es ist Wahnsinn“, erkennt der Präsident, worauf jemand erwidert: „Es ist die Realität.“ Bis zum Schluss tappen die Entscheidungsträger im Dunkeln, wer die Rakete abgeschossen hat. War es der verrückte Kim? Die Chinesen? Oder die Russen, die es einem der beiden anderen in die Schuhe schieben wollten?
Eine letzte Stimme der Vernunft ist Sicherheitsberater Jake Baerington (Gabriel Basso), der auf deeskalierende Gespräche mit Russen und Chinesen drängt. Doch die als Running Gag durch Verkehrschaos und Sicherheitskontrollen stolpernde Nachwuchskraft ist eine tragikomische Figur. Er fordert vertrauensbildende Maßnahmen, stattdessen regiert der Automatismus der Nukleardoktrinen.
Die dreifache Variation des Countdowns ist ein dramaturgisches Meisterstück; Schlüsselsätze werden ebenso wie vermeintliche Nebenbemerkungen im Videocall wiederholt und zu einem Mosaik aus apokalyptischen Zeichen verdichtet. Die Dringlichkeit der Handlung überträgt sich als Eindringlichkeit auf den Zuschauer: Angehörige sollen in letzter Minute gewarnt oder gerettet werden; der Secret Service holt mit vorgehaltener Waffe die zur Evakuierung im Regierungsbunker vorgesehene VIPs ab (und lässt die anderen zurück). Während die Öffentlichkeit noch gar nichts ahnt, sind die Bomber für den atomaren Gegenschlag schon in der Luft.
Wie das alles abliefe, wenn an den Schaltstellen ein Trump oder ein Hegseth sitzen, darf sich der Zuschauer selbst ausmalen. Bigelow geht es nicht um das im Prinzip austauschbare Bodenpersonal, sondern um die suizidale Grundbedingung unseres geopolitischen Systems. Im Ernstfall bleibt auch den besonnensten Führern nur ein Stoßgebet. Wir leben in einem Haus voller Dynamit, und verdrängen erfolgreich, dass es heute, morgen, nächstes Jahr explodieren könnte.
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