Gibt es ein Vorbild für den gefeierten und exzentrischen Theatermacher, der sich in Dorothee Elmigers neuem Roman „Die Holländerinnen“ immer weiter in die Tiefen des Dschungels wagt, auf den Spuren eines Verbrechens, das er mit seiner Truppe nachstellen will? Seit Wochen wird spekuliert, dass die Schweizer Schriftstellerin in ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman ihren Landsmann Milo Rau parodiert.
Abwegig ist das nicht. Der Leiter der Wiener Festwochen hat ein Faible für die Reinszenierung von Gewalt: Rau ließ bereits einen Foltermord durch Laien oder die Geschichte des belgischen Pädokriminellen Marc Dutroux durch Kinder nachspielen. Und mit „Antigone im Amazonas“ schaffte er es bis in den Dschungel.
Schon lange vor „Die Holländerinnen“ wurde immer wieder kontrovers diskutiert, was Rau mit seinen Wiederaufführungen von Mord und Totschlag beabsichtigt. Geht es um Gewaltpornografie? Je krasser, desto besser – vor allem für den Theatermacher selbst, der vom dargestellten Leid profitiert (anders als jene, die es wirklich erleben)? Oder um ein fast therapeutisches, ja kathartisches Durcharbeiten der Brutalität, das Trost und Hoffnung spendet, wie Rau selbst betont?
Man kommt kaum umhin, in der Faszination für das Grauen etwas Obszönes zu vermuten, das bei Rau allerdings zum Spiegel einer obszönen Welt wird. Ein erschütterndes Beispiel ist sein neuestes Stück „Die Seherin“.
In „Die Seherin“ geht Rau mit zwei Geschichten der Faszination für die Gewalt nach. Da gibt es Azad Hassan aus Mossul, dem der „Islamische Staat“ eine Hand abgehackt hat – live gefilmt und ins Internet gestellt. „Das Schlimmste war die Begeisterung der Menge“, sagt Hassan, die Gewaltgeilheit der tobenden Masse.
Und da gibt es die von Ursina Lardi gespielte Kriegsfotografin, die durch die Krisengebiete der Welt zieht. Sie kann dem Sog der Bilder nicht mehr entkommen, schaut nächtelang Videos wie das von Hassan: von abgehackten Gliedmaßen und Köpfen, von Erschießungen. Sie zeichnet auf, reproduziert und konsumiert, was er am eigenen Leib erlebt hat. Ist auch diese Figur Rau nachempfunden, dem Theatermacher als Krisenjetsetter und Gewaltbesessenen?
Wie in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ geht es im Stück den Fluss der Gewalt entlang bis zur Quelle hinauf. An der Berliner Schaubühne kommt der zuvor nur auf Video zu sehende Hassan am Ende – wie schon bei der Wiener Premiere – wirklich auf die Bühne: Der Verstümmelte kehrt von seiner Insel der Scham in die Gemeinschaft des Theaters zurück. Das reale Opfer tritt an die Stelle der perversen Bilderflut, die Rau uns Seherinnen und Sehern, den Zuschauern, vorenthält.
Der Effekt? Man fühlt. Der Schleier der Abgestumpftheit, gewebt aus der unaufhörlichen medialen Präsenz von Gewalt, wird zerrissen, das Einzelschicksal zur Menschheitsfrage. Die Gewalt wird überschrieben und transzendiert, nicht voyeuristisch ausgestellt.
Kritiker haben oft behauptet, Rau sei wie der Theatermacher in „Die Holländerinnen“ mit seiner „tropischen Passion“, vor allem ein begnadeter Selbstdarsteller auf der Jagd nach dem nächsten brutalen „Hot Take“, endlos über Theorie redend. Mag sogar sein. Das Schöne am Theater ist, dass der Macher hinter das Gemachte zurücktritt, wie sich auch im Roman das Vorbild in Literatur auflöst. Was bleibt, ist Kunst.
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