Bis heute gilt: Sex sells. Aber dass Sex auch zerstören, krank und süchtig machen kann, wird oft vergessen. Die ARD-Miniserie „Naked“ widmet sich jetzt dem Tabu: Mit schonungsloser Härte und radikaler Verletzlichkeit setzt sie sich mit den Auswirkungen von Sexsucht auf die Betroffenen und Angehörigen auseinander.
Der „Love Noir“-Sechsteiler von Regisseurin Bettina Oberli („37 Sekunden“) zeigt, wie Marie (Svenja Jung) und ihr neuer Partner Luis (Noah Saavedra) gemeinsam gegen Luis’ Krankheit ankämpfen, die sie beide zunehmend zu verschlingen droht. Die Hauptrolle spielt Svenja Jung („Fall For Me“), die aktuell zu den angesagtesten Schauspielerinnen Deutschlands gehört. Gemeinsam mit den Drehbuchautoren Silke Eggert und Sebastian Ladwig erzählt sie im Interview von gefährlichen Süchten, herausfordernden Dreharbeiten und den provokantesten Sexszenen.
WELT: Frau Eggert, das Psychodrama „Naked“ basiert auf Ihren eigenen Erfahrungen. Waren Sie in der Position der Sexsüchtigen wie Luis oder der der Angehörigen eines Sexsüchtigen wie Marie?
Silke Eggert: Ich habe mich in einer Co-Abhängigkeit befunden, war also eher in der Rolle der Marie. Aber es ist nicht meine Geschichte, sondern eine fiktive Dramaturgie, die auf wahren Ereignissen beruht. Ich wollte in der Serie die verschiedenen Phasen zeigen, von der Entdeckung der Krankheit über den Versuch, sie mit einer Therapie zu bekämpfen, bis hin zum Rückfall. Was bei mir anders war: Ich wusste lange, bis kurz vor Schluss der Beziehung nicht, dass es sich überhaupt um Sexsucht handelt. Ich hätte mir gewünscht, es zu wissen, und als ich es dann herausgefunden habe, war es quasi schon zu spät. Dann habe ich mir Hilfe gesucht und genommen.
WELT: Welche Klischees über Sexsucht wollten Sie mit der Serie aus dem Weg räumen?
Eggert: Oft begegnet es mir, dass irgendwelche blöden Witze kommen, wenn man von Sexsucht erzählt. Viele Männer fragen dann auch: Woher weiß man, dass man sexsüchtig ist?
Svenja Jung: Das ist auch in die Serie eingeflossen. Es gibt eine Szene zwischen Luis und seinem Bruder, wo der Bruder sagt: „Das sind doch keine Probleme. Wir hätten alle gerne so ein erfülltes Sexleben wie du.“
WELT: Dabei ist Sexsucht seit 2019 von der WHO als anerkannte Krankheit eingestuft. Was macht Sexsucht so problematisch?
Eggert: Das ist so ähnlich wie eine Alkoholsucht. Man muss die Dosis erhöhen, es muss immer krasser werden. Man fängt vielleicht mit Pornografie an und muss es dann ausleben. Die Fantasien werden immer stärker und extremer, damit man noch zu diesem Kick und dieser Befriedigung kommt. Es dient dann nicht mehr dem Vergnügen, sondern nur noch der Suchtbefriedigung. Wie, wenn man eine Zigarette raucht, und dann noch eine, usw. Es gibt verschiedene Auswüchse der Sexsucht: Es gibt Leute, die konsumieren zwanghaft Pornografie, sind dann aber fast asexuell im wirklichen Leben; andere wiederum begehen Straftaten; wieder andere haben zwanghaften Sex mit Prostituierten.
WELT: Wie viele Menschen in Deutschland leiden unter Sexsucht? Gibt es da genaue Zahlen?
Sebastian Ladwig: Das ist schwer rauszufinden. Bei meiner Recherche in Selbsthilfegruppen ist mir aufgefallen, dass die Übergänge, gerade was Pornografie angeht, fließend sind. Gerade jugendliche Männer rutschen ja oft in eine Form von Pornografiesucht. Der Weg vom einmaligen Brüste-Googeln bis zur täglichen Hardcore-Pornografie ist über die Digitalmedien und die dauerhafte Verfügbarkeit von Pornografie im Internet sehr kurz. Mittlerweile gibt es auch Gegenbewegungen wie die NoFap-Gemeinschaft, in der sich Jugendliche gegenseitig dazu verpflichten, nicht mehr auf Pornografie zu masturbieren, und sich gegenseitig Kalender erstellen und Glück wünschen, wenn sie es lange geschafft haben. Die sind zum Beispiel alle nicht erfasst, obwohl sie selbst schon ein Problembewusstsein haben. Wahrscheinlich gibt es eine riesige Dunkelziffer.
WELT: Was haben Sie noch aus Ihrer Selbsthilfegruppen-Recherche mitgenommen?
Ladwig: Es war hochinteressant, diese Geschichten zu hören, weil meine ganzen Vorurteile zusammengepurzelt sind. Diese Männer waren natürlich ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte. Sie entsprachen gar nicht den Klischees, sondern kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Alle hatten normale Jobs, waren intelligente Menschen, hochreflektiert.
WELT: Leiden überwiegend Männer an der Krankheit? In Lars von Triers „Nymphomaniac“ geht es ja zum Beispiel um eine sexsüchtige Frau.
Eggert: Meiner Erfahrung nach sind die meisten Angehörigen Partnerinnen und die meisten Sexaholiker männlich. Aber es gibt natürlich auch sexsüchtige Frauen, klar.
WELT: Weitere Charaktere in der Serie werden von weiteren Süchten wie etwa Alkoholismus geplagt. Inwiefern sind Süchte etwas, womit unsere Gegenwart besonders zu kämpfen hat?
Jung: Ich glaube, wir sind alle nach irgendetwas süchtig. Ich verbringe zum Beispiel viel zu viel Zeit an meinem Handy. Gerade in dem Kapitalismus, in dem wir leben, wollen wir immer mehr von irgendwas. Ich glaube, dass wir ein universelles Thema ansprechen, mit dem sich viele Menschen identifizieren können, obwohl wir den Fokus mit der Sexsucht auf eine etwas unbekanntere Sucht lenken.
Eggert: Lange hatte unsere Serie den Arbeitstitel „Verlangen“. Darum geht es eigentlich. Woher kommt das Verlangen, aus welcher Leere und aus welchem Mangel?
WELT: Nicht nur Luis ist süchtig nach Sex, sondern auch Marie ist süchtig nach Luis.
Jung: Sie möchte ihn kontrollieren. Das finde ich so unfassbar gut an den Drehbüchern, dass es nicht um Täter-Opfer-Zuschreibungen geht, sondern Marie auch viele grenzüberschreitende Dinge tut: Sie will ihn kontrollieren, ruft ihn an, checkt seine Mails. Es geht nicht darum, dass er der böse, sexsüchtige Mann ist und sie die Frau, die darunter leidet. So einfach ist es nicht.
WELT: Beide werden irgendwann übergriffig. Außerdem wollen sich in der Serie alle gegenseitig anklagen: die Eltern die Lehrerin, die Lehrerin den Schüler, Luis seine Ex-Freundin, die Ex-Freundin Luis … Welche Rolle spielt das Gesetz, wenn es um Sexsucht geht?
Ladwig: Wir versuchen ja schon seit Langem, der Sexualität über Normen beizukommen und sie kategorisierbar zu machen. Nach MeToo hatte man kurz das Gefühl, dass man über den „Consent“-Begriff alles in den Griff bekommt. Bis man gemerkt hat, dass das so richtig auch nicht funktioniert und man das Thema nicht von seinen Grauzonen bereinigen kann.
WELT: Oft hört man heute Klagen darüber, dass im Gegenwartsfilm kaum noch Sex vorkomme. Dann wieder beschweren sich alle über Übersexualisierung. Wie stehen Sie zu der Darstellung von Sex in aktuellen Filmen und Serien?
Ladwig: Was mich an amerikanischen Serien und Filmen schon lange nervt, ist, dass da immer eine Hypersexualität verbunden mit einer Prüderie herrscht. Da kriegt dann etwa der Mann einen Blowjob an seinem Geburtstag, dann sieht man noch irgendwie Sperma fliegen, aber am Ende herrscht trotzdem eine Angst oder ein Ekel vor Sexualität. Wir haben uns von Anfang an auf die Fahne geschrieben, dass wir nicht so erzählen wollen. In der ersten Folge gibt es eine Szene, in der Marie auf der Toilette sitzt und er dann runtergeht zwischen ihre Beine. Für diese Szene haben wir gekämpft wie die Löwen. In jeder Runde wurde sie von außen gestrichen, und wir haben sie immer wieder reinbekommen. Es ist so eine tolle Szene geworden, so toll gespielt und gefilmt. Diese Szene steht exemplarisch für den Ansatz, den wir gewählt haben.
Eggert: Ja, es sollte echt und authentisch sein. Wir haben 36 Sexszenen und ich glaube, wir haben es geschafft, dass es keine Redundanzen gibt, sondern jede einen dramaturgischen Zweck erfüllt und uns immer wieder etwas Neues über die Charaktere erzählt.
WELT: Gab es noch weitere Szenen, für die Sie kämpfen mussten?
Eggert: Ja, es gab Diskussionen um die Koks-Szene, weil das im Club, also in der Öffentlichkeit, passiert und nicht auf der Toilette. Als ich das Ergebnis gesehen habe, war ich aber insgesamt sehr überrascht, wie mutig die Öffentlich-Rechtlichen sind.
Ladwig: Eigentlich haben sie am Ende alles zugelassen. Auch wenn man diskutieren musste – da ist nichts auf dem Schnittraumboden, was man vermisst.
Jung: Das sehe ich auch so. Chapeau an die ARD, dass sie uns die Plattform geboten hat, diese Geschichte in so einer Rohheit und Härte und dann natürlich auch Zärtlichkeit zu erzählen. Ich glaube, so eine Serie erwartet keiner in der ARD-Mediathek.
WELT: Welche Szene nehmen Sie selbst als die provokanteste wahr?
Jung: Die Szenen von Luis, wo er die Nacht durchstreift und in Sexclubs und zu Prostituierten geht.
Eggert: Ich finde die Szene am provokantesten zwischen Luis und Marie, als sie noch schläft, weil man darüber so kontrovers diskutieren kann.
Ladwig: Da haben wir die Provokation auch geplant, muss man sagen. Wir haben mal abgestimmt und gefragt, wer denkt, dass es eine Vergewaltigung ist, und wer denkt, dass es keine ist. Das Ergebnis war nicht klar. Daran haben wir gemerkt, dass da etwas Interessantes ist.
WELT: Müssten wir mit unserem jetzigen Wissen über Sexsucht und ihre Erkennungsmerkmale nicht ganz viele Helden der Kulturgeschichte nachträglich als sexsüchtig diagnostizieren?
Eggert: Ganz viele griechische Götter bestimmt.
Ladwig: Super Punkt. Zeus war wahrscheinlich der erste Sexsüchtige der Geschichte. Es gibt bestimmt auch viele sexsüchtige Autoren, Charles Bukowski oder Martin Amis, bei denen man sich denkt, wer so viel darüber schreiben musste …
WELT: Worin bestehen für Sie, Frau Jung, die größten Herausforderungen beim Drehen einer Sexszene?
Jung: Das Wichtigste ist, dass man sich immer vertraut. Man kann auch einen emotionalen Zusammenbruch spielen, in dem man sich noch viel nackter fühlt, als wenn man wirklich körperlich nackt ist. Die größte Herausforderung besteht darin, eine gemeinsame Sprache und Vertrauen zu finden, mit der Regie, mit Noah, mit der Kamera. Gerade diese Szenen haben uns als Viererteam sehr zusammengeschweißt, weil es ja auch wirklich absurde Situationen sind, in denen man sich da wiederfindet, da die Kamera immer zwischen uns sein muss. Wir haben mit so vielen verschiedenen Kameras gearbeitet, auch mit so Mikro-Kameras, die dann über den Körper gefahren sind. Am Ende ist es wie eine Choreografie. Man tanzt eigentlich.
WELT: Mit intimen Szenen haben Sie schon vorher Erfahrungen gesammelt, etwa in Ihrem Kinodebüt „Fucking Berlin“, wo Sie eine junge Prostituierte spielten, und jetzt auch wieder in dem enorm erfolgreichen Netflix-Erotik-Thriller „Fall For Me“. Zwischen „Fucking Berlin“ und „Naked“ sind fast zehn Jahre vergangen. Wie hat sich das Drehen von Sexszenen in dieser Zeit verändert?
Jung: Ist das echt schon so lange her? Also es hat sich ganz viel geändert. Als wir „Fucking Berlin“ gedreht haben, hatten wir keine Intimitätskoordinatoren am Set. Das war natürlich auch der Zeit geschuldet, da kann man niemandem einen Vorwurf machen. Das hätte es schon viel früher geben sollen, aber zum Glück ist diese Position am Set durch die MeToo-Bewegung viel wichtiger geworden. Ich finde sie wirklich unersetzlich. Früher waren beim Dreh von Sexszenen alle total aufgeregt, es war sehr schambehaftet, man wollte niemandem zu nahe kommen, musste das jetzt aber auch irgendwie machen. Dadurch, dass jetzt alles vorher so detailliert besprochen wird, ist die Scham weggefallen, und das ist ein großes Geschenk.
WELT: Welche Diskussion hoffen Sie mit der Serie anzustoßen?
Eggert: Eine Diskussion über die Ambivalenzen finde ich spannend. Und auch: Wie wollen wir Sexualität zeigen? Wie wollen wir Sexualität leben? Einerseits leben wir in einer übersexualisierten Gesellschaft, in der viel Pornografie konsumiert wird. Andererseits ist die Sexualität überhaupt nicht frei. Ich glaube, die wenigsten Menschen sind frei in ihrer Sexualität. Darüber würde ich gerne reden.
Ladwig: Ich würde mir wünschen, dass wir über Figuren sprechen, die wir in Deutschland gerne erzählen wollen. Weil ich das Gefühl habe, dass wir sehr oft moralische und pädagogische Figuren erzählen, bei denen man am Ende sagt: „Ah, jetzt haben sie Folgendes gelernt und kehren nach Hause zurück.“ Ich finde, unsere beiden Hauptfiguren sind herrlich widersprüchlich. Am Ende geht man nicht mit einem ganz klaren Bild raus. Marie ist weder Täter noch Opfer. Wenn unsere Serie es schaffen würde, dass unsere Förderstruktur mehr solche Figuren zulässt, fände ich das genial.
Eggert: Die Regisseurin Bettina Oberli hat uns als Drehbuchautoren viel einbezogen, was keine Selbstverständlichkeit ist. Aber es hat sich gelohnt und darüber würde ich auch gerne diskutieren. Ich finde, dass das zur Norm werden sollte, denn wir sind diejenigen, die die Figuren geschaffen haben. Wieso sollten wir denn dann nicht um Rat gefragt werden? Das tut doch allen gut.
„Naked“ ist ab dem 1. Oktober in der ARD-Mediathek zu sehen. Lineare Sendetermine: 3. Oktober, 23:45 Uhr; 4. Oktober, 0:35 Uhr; 4. Oktober, 1:25 Uhr; 5. Oktober, 0:55 Uhr; 5. Oktober, 1:45 Uhr; 5. Oktober, 2:35 Uhr.
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