Ein Anruf vor knapp fünf Jahren: auf dem Handydisplay eine französische Nummer, dann eine Stimme in sanft Wienerischem Singsang, die zugleich tief und hell zu klingen schien, hinter jedem Satz ein Aufblitzen von ironischer Wärme: „Troller am Apparat. Da musste ich also erst hundert Jahre alt werden, um eine Kolumne schreiben zu dürfen. Na, Sie sind mir eine!“ Ein leises Lachen. In seiner Stimme lagen, das war zu hören, ohne den alten Mann zu sehen, der da am anderen Ende zwar nur aus Paris, aber doch wie aus einer anderen Zeitzone anrief, lauter Facetten des 20. Jahrhunderts.
Die Vorkriegszeit in Wien, wo der Junge in einer jüdischen Familie aufgewachsen war, bevor er vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Das Exil, in dem er Amerikaner geworden war. Die Nachkriegszeit in Paris, als er zum Reporter wurde, der die Stadt und die wichtigsten Künstler, Intellektuellen und interessanten Prominenten seiner Zeit als Dokumentarfilmer porträtierte. Georg Stefan Troller, die lebende Legende, schien in seinen hundert Jahren mehrere Leben in einem gelebt zu haben. Troller, der Mann am Telefon, war ein österreichischer Georg, ein amerikanischer George und ein französischer Georges in einem, auch wenn er sich später einfach als „George“ ansprechen ließ.
Troller war einhundert, als er Kolumnist der „Literarischen Welt“ wurde und wir uns das erste Mal begegneten, in seiner Dachgeschosswohnung im sechsten Stock in einer schmalen Straße im ruhigen 7. Arrondissement von Paris. Wie bei allen späteren Besuchen stand Troller, der am Tisch mit Kater Foxy und seiner Vertrauten Anna Frandsen auf seinen Besuch gewartet hatte, gestützt auf einen Stock auf, entschuldigte sich formvollendet mit einem Nicken des akkurat gescheitelten Hauptes, dass er „wie Balzac“ mit Morgenmantel über dem Hemd empfing – um dann, wie von etwas gerufen, sofort bei der Sache zu sein, im Gespräch, zugewandt. Der alte Mann hatte nichts Abgeschlossenes oder Starres, obwohl er, wie er selbst mit blitzendem Blick sagte, „eigentlich ein Fossil“ sei.
Troller wurde am 10. Dezember 1921 in Wien in eine bürgerliche jüdische Familie geboren, der Vater war Pelzhändler aus Brünn. Troller selbst lernte Buchbinder, nach dem „Anschluss“ Österreichs floh er 1938 über die Tschechoslowakei nach Frankreich, wo er bei Kriegsausbruch interniert wurde. 1941 konnte er in die USA fliehen, wo er 1943 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Als amerikanischer Soldat war Troller im April 1945 an der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beteiligt. Was bedeutete dieser Schlüsselmoment – die Brutalität der Geschichte oder eine Möglichkeit, einen Teil von ihr anders zu gestalten?
Der Hundertjährige antwortete vorsichtig auf diese Frage: „Es sind viele Dinge, die einem in dem Moment durch den Kopf gehen. Wieso liege ich nicht selber da? Wieso liegt der da und nicht ich? Das hätte ebenso leicht passieren können. Wie oft bin ich da durchgerutscht? Der andere Gedanke ist: Habe ich mich auch genug mit dieser Tragödie befasst? Da gab es auch die Selbstbefragung: Habe ich wirklich das Meine beigetragen, um diese Gräuel zu stoppen; habe ich zumindest genug getrauert? Man weiß es nicht.“ Befreit habe ihn von den Eindrücken aus Dachau seine Kamera, die Leica. Er habe das Erlebte und Gesehene „wegfotografiert“: „Das, was man aufnimmt, ist nicht mehr es selbst, ist schon in deinem Bild. Du hast es verwandelt, du hast Leben in Bild verwandelt. Und dieses Bild gehört dir. Damit kann man überleben.“ Für Trollers Leben sollte dieses Prinzip entscheidend werden: die Selbstbefragung als Verortung in der Geschichte und die Bilder als Lebensmoment in der Gegenwart.
Sein legendäres „Pariser Journal“
Nachdem Troller nach Kriegsende in Kalifornien und New York Literatur- und Theaterwissenschaft studiert hatte, ging er 1949 nach Paris, zunächst zum Studium an der Sorbonne, bekam aber rasch das Angebot, als Hörfunkreporter für den Rias Berlin aus Paris zu berichten. Es begann eine Karriere als Interviewer der kulturellen Größen seiner Zeit. Das „Pariser Journal“, 1962 bis 1971 vom WDR ausgestrahlt, machte Troller als eigenwilligen Porträtisten und Chronist französischer Lebenswelten bekannt. Mit seiner „Personenbeschreibung“, die 1971 bis 1993 im ZDF lief, stellte er zahllose Künstler, Intellektuelle und schillernde Figuren wie Edith Piaf, Leonard Cohen oder Robert Crumb dem deutschen Publikum vor.
Bis heute wirken die halb dokumentarischen, halb poetischen Filmporträts, obwohl Jahrzehnte alt, wie zeitlose Einzelkunstwerke. Einmal trifft er den Schriftsteller Thomas Brasch, der sich sichtlich nicht porträtieren lassen will. Troller filmt Brasch, wie er in seine Schreibmaschine schreibt „Herr T. will wissen, wie ich mich fühle? Ich frag ihn ja auch nicht, was er fühlt!“ Die Frage, was einen guten Reporter ausmacht, beantwortete Troller mit seinen Filmen: ein radikal subjektiver Blick, der dem Zweifel, dem Zwischenton Raum lässt. Trollers Sendungen hatten in ihrer Zeit erstaunliche Einschaltquoten: vielleicht gerade, weil sie so eigen waren; durch den Trollerschen Blick mehr die Vergegenwärtigung des Porträtierten als eine Rückblende auf Person oder Werk.
Auch die Kolumnen, die er ab 2021 in der „Literarischen Welt“ schrieb, folgten diesem Drang zum im Präsens gehaltenen Schlaglicht, Troller nannte das seinen Hemingwayhaften Stakkato-Stil. So schrieb er über die schillerndsten, eigenartigsten, denkwürdigsten Begegnungen mit Louis Ferdinand Céline, Simone de Beauvoir oder Jean-Paul Sartre, aber auch Romy Schneider oder Coco Chanel. Auch hier trat hinter dem Porträtierten immer auch gebrochen die Person des Autors hervor. Vielleicht war auch das seine Art, das 20. Jahrhundert, Szene für Szene, in all seiner Widersprüchlichkeit, seinen Höhen und Tiefen, seiner Dunkelheit und seinem Glanz, einzufangen.
Im 2021 erschienenen Dokumentarfilm „Auslegung der Wirklichkeit“ von Ruth Rieser gibt es eine Szene, in der Troller in Wien die Wohnung besucht, aus der er und seine Eltern vertrieben wurden. Plötzlich steht Troller vor dem Bücherschrank seines Vaters und der Bewohnerin der Wohnung, die meint, ihn von ihren Vorfahren geerbt zu haben. Im Schrank sind noch Bücher, die Troller zu seiner Bar Mizwa bekommen hatte. Ein „eigentümliches Gefühl“ habe das in ihm ausgelöst, sagt Troller später im Film zu einem Freund. Und fügte später lakonisch in einem Gespräch hinzu: In dem Gefühl, das ihn in der Situation beseelt hätte, sei auch eine Spur Ironie gewesen. „So ist eben das Leben. So spielt das Leben mit uns.“ Antisemitismus habe er schon früh erfahren, noch als Schulkind in Wien. „Ich wollte dazu gehören“, sagte er später, „dass man mir unaufhörlich nachwies, dass ich nicht dazu gehörte, hat mich in eine eigentümliche Situation gebracht.“
Um seinen hundertsten Geburtstag herum wurde Troller, dessen Autobiografie „Selbstbeschreibung“ 1988 und seine Werke über Paris später in kleineren Verlagen erschienen waren, wiederentdeckt und vielfach geehrt, was ihn sichtlich freute, als Exilanten und Intellektuellen. Nur eins verbot er strikt: Gespräche über das Alter – und die Frage, wo denn nun seine „Heimat“ war. Denn natürlich lag sie allein in der Sprache. Gefragt, ob ihm von den vielen Sprachen, die er spreche, eine besonders am Herzen liege, das Französische, das Österreichische oder Amerikanische, entgegnete er: Das, was er am meisten fürchte auf der Welt sei, „dass ich keine Sprache mehr mein Eigen nenne“.
Als er im Zweiten Weltkrieg im französischen Internierungslager war, habe er ein deutsch-französisches Wörterbuch „durchgeackert“: „Nicht etwa die französischen Vokabeln, sondern die deutschen! Ich habe ein ganzes Heft vollgefüllt mit Wörtern, die ich mir herausgesucht habe, die am Rande des Vergessens, also des Absturzes standen.“ Als amerikanischer Soldat in Deutschland habe er ähnliches getan, sein Kriegstagebuch habe er auf Deutsch geschrieben –„als amerikanischer Soldat im Krieg gegen die Deutschen! Und das einzige Buch, das ich mit in den Krieg nahm, war Nietzsches ‚Zarathustra‘.“ Wenn es eine Heimat gebe, dann wohl die deutsche Sprache. Aber Troller war auch Ironiker genug, dass sich daraus kein denkschwerer Patriotismus herauslesen ließe. „Wissen Sie“, sagte er einmal, „ich fühle mich manchmal, als sei ich der letzte Wiener Feuilletonist. Die Liebe zu Wien besteht ja darin, dass man etwas gleichzeitig total bewundern und total belächeln kann. Das ist die Wiener Ironie. Das ist letztlich mein Lebensgefühl.“
Kein denkschwerer Patriotismus
Bei einem der letzten Geburtstage versammelten sich in der Pariser Dachgeschosswohnung zwischen den Büchern und Bildern die Freunde, Weggefährten und die beiden Töchter. Es wurde geredet, gesungen, gelacht, ein heiteres Durcheinander. Troller saß in seinem Stuhl am Tisch und beobachtete. Da saß kein Fossil, sondern einer, der sich mit den wachen Augen eines Kindes sein Bild machte. „Ich filme hier wieder alles“, sagte er, tippte sich an die Schläfe und lachte.
In der letzten Kolumne für die „Literarische Welt“ schreibt Troller über einen Besuch in London, in Shakespeares Globe Theatre. Er geht „über viktorianische Stahlbrücken“ durch Southwark, „von Dickens beschrieben, von Doré gemalt“. Am Abend kommt der Abschied: „Versteckt nehme ich einen winzigen Holzspan vom alten Globe-Theater mit. Das und mein Zementbrocken vom Stammlager Auschwitz, und ich habe eine ganze Weltgeschichte.“ Wenn es ein Vermächtnis gibt aus den vielen Leben, die Troller hatte, dann ist es wohl das: Die Schrecken und das Schöne im Bild verbunden zu haben, für den Moment.
Georg Stefan Troller ist am Morgen des 27. September im Alter von 103 Jahren in Paris gestorben. Er wird uns fehlen.
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