Im Staatstheater Hannover kommt Lena Brasch die Stufen der Cumberland’schen Galerie herab. Das schönste Treppenhaus der Stadt wird es genannt, mit den schmiedeeisernen Geländern und den neugotischen Streben. Auf der Bühne im oberen Stockwerk bringt die Regisseurin in wenigen Tagen ein neues Stück von Sibylle Berg zur Uraufführung. Danach inszeniert sie in Berlin, dann wieder in Hannover. Für Brasch geht es gerade steil nach oben. Und das liegt nicht nur an ihrem Namen und der berühmten Familie. Dabei hatte sie mit dem Theater zwischenzeitlich schon abgeschlossen.

Brasch leuchtet im eher schummrigen Treppenhaus mit ihrer weißen Hose und dem blassrosa Oberteil. Leise klackern die Absätze ihrer dunklen Stiefel. „Fuffifufzich“ steht auf ihrem Pullover, vor ein paar Tagen war Brasch beim Konzert der in hippen Kreisen schwer angesagten Sängerin. „Ich liebe dich evtl. für immer“ heißt eine Single, mit dem für mittdreißigjährige Großstadtkinder typischen Sound zwischen unüberwindlicher Ironie und Sehnsucht nach neuer Romantik. Im Video tritt auch Katja Riemann auf, die bei Brasch in Hannover auf der Bühne steht.

„Ein wenig Licht. Und diese Ruhe“ ist ein typischer, düsterer Sibylle-Berg-Text, erzählt Brasch, mit viel Weltuntergangsstimmung. Ein Ingenieur verschanzt sich im Bunker, während die Welt draußen, nicht zuletzt dank seiner Erfindungen, im Krieg versinkt. KI-gesteuerte Drohnenschwärme ziehen wie apokalyptische Reiter über die Erdoberfläche, Steueroasen zerfleischen sich gegenseitig. Kollaps auf allen Ebenen: ökonomisch, politisch, technisch, moralisch.

Sieht Brasch die Welt auch so unheilschwanger? „Ich mache mir schon Sorgen“, antwortet sie. Rechtsruck, Faschismus, AfD, Kürzungen zum Beispiel. Sie hat Alpträume mit Deportationen, Massengräbern, Leichenbergen. „Für ‚Nie wieder!‘ ist es jetzt schon zu spät“, habe sie den Eindruck. Wir sitzen im Hof des Theaters, Brasch raucht. An einem Finger trägt sie einen Ring mit Davidstern. Den musste sie nach dem 7. Oktober 2023 immer öfter abnehmen, sagt sie. Kürzlich erst wieder, als sie im Berliner Mauerpark jemanden von „bösartigen jüdischen Mächten“ reden hörte.

Antisemitische Äußerungen habe sie in den vergangenen zwei Jahren häufig mit- oder abbekommen. Wenn jüdische Menschen wie sie beispielsweise mit der Politik Israels gleichgesetzt und in Kollektivhaftung genommen werden. Dabei findet Brasch es selbst unfassbar und menschenverachtend, was die israelische Armee in Gaza macht.

Einmal wurde Brasch gesagt, was sie eigentlich von einer rechten Regierung zu befürchten habe. Juden seien doch weiß und hätten Geld. Das kam aus ihrem engeren Kreis, die Freundschaft ist zerbrochen. Manchmal fühlt sich Brasch so, als werde sie von der Geschichte eingeholt. Ihre Großeltern flüchteten vor den Nazis, später gingen sie in den Osten Deutschlands. Ihr Großvater war stellvertretender Kulturminister. Ihre Onkel Thomas, Peter und Klaus Brasch waren Künstler mit einer tragischen Lebensgeschichte, alle seit vielen Jahren tot. Übrig geblieben sind nur ihre Mutter Marion, die Autorin und Radiomoderatorin, und sie selbst. Die letzten Braschs.

Anfang des Jahres, zum 80. Geburtstag von Thomas Brasch, hat Lena Brasch etwas gewagt, wogegen sie sich lange gewehrt hat: einen Abend über ihren Onkel. Nicht als Einzige in ihrer Familie: Ihre Mutter machte am Berliner Ensemble eine Lesung, zusammen mit Katharina Thalbach, der früheren Freundin von Thomas Brasch. Jürgen Kuttner, ihr Vater, brachte am Deutschen Theater mit Tom Kühnel die Textcollage „Halt’s Maul, Kassandra!“ auf die Bühne. Und Lena? Ging ans Maxim-Gorki-Theater und machte mit „Brasch – Das Alte geht nicht und das Neue auch nicht“ ihren bisher wohl schönsten, auch persönlichsten Theaterabend. „Was mich an den Texten meines Onkels interessiert, ist dieses Gefühl, zwischen zwei großen Kriegen zu leben“, sagt sie.

Eine Szene an dem Abend hat Lena Brasch selbst geschrieben. In der beschreibt sie, wie sie durch das Berliner Scheunenviertel fährt und mit Farbe beschmierte Stolpersteine sieht. Sie geht in eine Drogerie, kauft Reinigungsmittel und einen Stahlschwamm, und gerade, als sie sich hinhocken will, fällt ihr ein, wie ihre Großmutter als kleines Mädchen von den Nazis in Wien gezwungen wurde, unter dem Gelächter der Peiniger mit einer Zahnbürste die Straße zu putzen. „Nie wieder!“, denkt sich Brasch. Und fährt zurück in die Drogerie, kauft eine Teleskopstange und Klebeband, befestigt den Schwamm daran und erledigt das Reinigen der Stolpersteine im Stehen.

„Ich habe mich noch nie so jüdisch gefühlt wie in diesem Moment, in dem ich dachte, die Geschichte meiner Großmutter zu wiederholen“, sagt Brasch und zündet sich die nächste Zigarette an. Momente, denen sie nicht entkommen kann. Kleine Schocks zwischen nicht vergehender Vergangenheit und Gegenwart. So auch, als die Premiere ihrer Inszenierung von Michel Friedmans „Fremd“ am Maxim-Gorki-Theater unter Polizeischutz stattfinden musste, weil es Drohungen gab, wie Brasch erzählt. Gegen eine Aufführung, in der es um einen jüdischen Jungen im Frankfurt der Nachkriegszeit geht: staatenlos, traumatisiert, ausgeschlossen.

A German Jewsical

Es sind immer wieder jüdische Themen, die Brasch im Theater macht. „East Side Story – A German Jewsical“, womit sie im Herbst ans Gorki-Theater zurückkehren wird, handelt von zwei jüdischen Schwestern zwischen 1946 und 1990, die aus dem Exil ins Nachkriegsdeutschland kommen. Die Träume von einem besseren Leben werden in der Systemkonkurrenz zerrissen. Auch da kann man an Braschs Familie denken. An die Großeltern, die in der DDR den Sozialismus aufbauen wollten, in dem es der berühmteste der Söhne nicht aushielt und in den Westen ging, wo er jedoch auch nicht glücklich wurde.

Und dann bringt Brasch im Winter Dana Vowinckels gefeierten Roman „Gewässer im Ziplock“ auf die Bühne, ihre zweite Arbeit in der Eröffnungsspielzeit von Hannovers neuem Intendanten Vasco Boenisch. „Eine wahnsinnig tolle Coming-of-Age-Geschichte auf der Suche nach einer jüdischen Identität“, nennt Brasch das Buch, das sie begeistert gelesen hat. Eine berührende Geschichte zwischen Deutschland, den USA und Israel, die sie für ein junges Publikum erzählen will, das womöglich keinen jüdischen Bezug hat, aber trotzdem weiß, wie man zwischen verschiedenen Welten und Identitäten lebt, auf der Suche nach dem Eigenen.

Obwohl Brasch erst 32 Jahre alt ist, hat sie schon fast die Hälfte ihres Lebens im Theater verbracht. Ihre erste Hospitanz machte sie mit 15 Jahren, nach der Schule fuhr sie nachmittags ins Deutsche Theater, wo ihr Vater „Die Sorgen und die Macht“ von Peter Hacks inszenierte. Ein Stück, das mit Sätzen wie „Kollegen, Kommunismus, wenn ihr euch / den vorstelln wollt, dann richtet eure Augen / auf, was jetzt ist, und nehmt das Gegenteil“ in der DDR für einen Skandal sorgte und zunächst verboten wurde. „Das war ein guter Einstieg“, sagt Brasch heute. Sie habe gelernt, sich nicht zu verbiegen, nichts zu fürchten und ihre eigenen Themen auch gegen Widerstände durchzusetzen.

Bevorzugt behandelt wurde sie im Theater nicht, sagt Brasch, auch nicht von ihrem Vater. Viele Jahre hat sie als Regieassistenz gearbeitet. „Ich habe mich halb tot assistiert“, so Brasch. „Und nachts habe ich in den Kantinen gearbeitet, in der Volksbühne und im Berliner Ensemble.“ Statt mit einem Studium an einer Hochschule einzusteigen, hat sie den Sprung ins kalte Wasser gewagt. „Ich habe oft gesehen, wie ich es nicht machen möchte. Inszenierungen und Arbeitsweisen, die ich furchtbar fand“, sagt sie. Doch nach zehn Jahren im Herzen der Berliner Theaterszene fühlte sie sich wie in einer Sackgasse.

„Ich habe dann vier Jahre als Literaturagentin gearbeitet, weil ich vom Theater die Schnauze voll hatte“, erzählt Brasch. Der Aschenbecher füllt sich mit ihren ausgedrückten Zigaretten, sie steckt sich eine neue an. Ihr erstes Projekt? War das Buch „Nullerjahre“ von Hendrik Bolz, ein mitreißender Bericht aus dem Osten der Nachwendezeit, über die berüchtigten „Baseballschlägerjahre“. Dass Brasch ins Theater zurückkehrte, verdankt sie der Schauspielerin Sina Martens vom Berliner Ensemble. Die schlug vor, etwas über Britney Spears zu machen, Brasch sagte zu. Trotz nur zwei Wochen Probenzeit, winziger Bühne und wenigen Vorstellungen.

„It’s Britney, Bitch!“ ist heute mit über 100 Vorstellungen einer der erfolgreichsten Berliner Theaterabende der vergangenen Jahre. Inzwischen gar auf der großen Bühne: 700 Plätze, immer ausverkauft. Sogar die „New York Times“ berichtete. Da war er endlich, der Durchbruch. Zwei Jahre später legten Brasch und Martens mit „Spielerfrauen“ den nächsten Hit nach. „Ich glaube, dass ich eine Sprache gefunden habe, die mich interessiert. Lässig und unangestrengt, aber trotzdem tief und bewegend“, sagt Brasch. Inspiration holt sie sich auch auf TikTok, bei der Gen Z. „Ich will normal erzählen, ohne so Goethe-Vibes. Ich will, dass man in einfachen Worten die Welt begreift.“ Und das kommt, von Berlin bis Hannover, gut an.

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