Jeremy könnte jeder Junge sein. Von der seltsamsten aller vor allem männlichen Krankheiten befallen. Pubertät heißt sie. Man sieht ihn von hinten. Der Raum ist karg. Um ihn herum ist alles grau. Und alles wird ein bisschen unscharf am Rand.
Er zuckt mit dem Fuß. Er klickt mit dem Kugelschreiber. Viel fällt ihm nicht ein. Man kann ihn verstehen. Es geht um Mathe. Der Lehrer versucht ihm zu helfen. Jeremy versteht ihn nicht. Er hat nur gehört, was der Lehrer vorher sagte. Dass er weiß, was er vorhat und dass er es aufgeben soll.
Dann steht Jeremy auf. Gibt einen offensichtlich leeren Zettel ab. Zieht die Hoodie-Kapuze über den Kopf. Geht. Wenn er zurückkommt, hat er zwei Pistolen dabei. Vier Menschen werden sterben. Jeremy ist einer von den Toten.
„Sie sind unter uns“ heißt Jeremys Geschichte. Sie eröffnet die neue „Polizeiruf“-Saison. Sie geht ein hohes Risiko ein. Dass sie verschoben wird, wenn wieder ein verwirrter Einzelkämpfer zur Waffe greift und die öffentlich-rechtlichen Programmverantwortlichen meinen, ihren Zuschauern im Sonntagabendkrimi nicht zumuten zu dürfen, was sie in den Nachrichten sehen.
Dass – was nicht selten geschieht, wenn Schulamokläufe fiktionalisiert werden – moralisiert wird, verzweifelt Ursachen gesucht werden und Schuldige. Überzogen von einer pathetischen Erzählsauce, an der sich alle filmischen Gewerke beteiligen, eingepfercht in eine atemlose Thrillerdramaturgie.
„Sie sind unter uns“ – geschrieben von Jan Braren, inszeniert von Esther Bialas – hält sich all das vom Leib. Braren und Bialas erzählen Jeremys Geschichte mit einer Nüchternheit, die einen nachhaltig frösteln lässt. Die Gänge, durch die Jeremy geht, die Pistolen in der Hand, die Dashcam vor der Brust, mit der er alles live ins Netz stellt, sind extrem kafkaesk, halbdunkel, leer, verschwommen am Rand wie die ganze Geschichte.
Man hört nichts, keine Musik, nur die Schritte, die Schreie, die Schüsse von fern, die auch die hören, die dabei sind in der Schule am Born. Man ist mittendrin und kann sich's kaum vorstellen. „Man kann das tausendmal üben“, sagt Jeremy im Stream, „die Realität ist krasser. Mir ist schlecht.“
Jeremy ist ein perfektes Opfer. Zwischen zwei Familien – die Eltern sind getrennt, der Vater leitet eine Sicherheitsfirma, die Mutter ist ein Pflegefall. Einer, der überfordert ist. Davon, erwachsener sein zu müssen, als er ist. Von der Wirklichkeit, die ihm spätestens seit Corona so verrückt erscheint, dass er alles glaubt, was ihm in den sogenannten sozialen Medien erzählt wird, von der Chatgruppe, in die er hineingeraten ist.
Dass Reptiloide sich die Welt untertan machen wollen zum Beispiel. Und dass nur er sie aufhalten kann, sagt ihm einer, von dem er nicht weiß, wer er ist. Dass er ihm ein Denkmal errichten wird dafür, dass er die Aliens aufhält, die schon unter uns sind und vor allem in der Schulleitung und unter den Mitschülern. Dass er ein williges Werkzeug ist, merkt Jeremy nicht.
Die Empathiekönigin des Sonntagabendkrimis
Jeremy möchte man in den Arm nehmen. Und ist verzweifelt, dass dieser „Polizeiruf“ noch eine gute Viertelstunde weitergeht, wenn Jeremy tot ist, dass Claudia Michelsens Kommissarin Brasch, die – eine Wärmestube des Sonntagabendkrimis, die einsame Empathiekönigen, die beste, der Jeremys Geschichte hätte zufallen können – alles versucht hat, den finalen Schuss zu verhindern, jenem Kerl noch vergeblich gegenübersitzt, der Jeremy mentale Versprengtheit ausnutzte, ihn missbrauchte.
Verzweifelt darüber auch, weil diese Nachspielzeit eigentlich überflüssig ist – mal vom abschließenden, sehr sorgsam und hoffnungsfroh gesprochenen Appell abgesehen, dass sich, was Jeremy tat, vielleicht hätte verhindern lassen, wenn alle wieder miteinander reden würden, statt sich aus der Distanz des Internets an die Gurgel zu gehen.
Man hätte „Sie sind unter uns“ genauso enden lassen können, wie Jeremys Geschichte über eine Stunde lang erzählt ist – als Geschichte der Unschärfe, der Ausweglosigkeit, der Missbrauchbarkeit. Als Metapher der Gegenwart. Aber das haben wohl die Konventionen verhindert, die Erzählregeln des öffentlich-rechtlichen Sonntagabendkrimis.
P. S.: Einer als Bemerkung getarnten Bitte kann sich der mittelbar betroffene Autor dieser Zeilen leider nicht enthalten. Jeremys Mutter leidet an einer Krankheit, die sie zum Pflegefall macht. Diese Krankheit wird benannt. Sie leidet an Multipler Sklerose. Das ist eine Autoimmunkrankheit, die nicht zwangsläufig und bei jedem auf direktem Weg ins Elend und zum Tod führt. Nur im Fernsehen ist das so.
Da ist MS aus dramaturgischen Gründen vergleichbar mit Krebs im Endstadium. Wäre für alle Betroffenen und für alle, die gerade mit der MS-Diagnose konfrontiert werden, schön, wenn es zumindest am Sonntagabend vorbei wäre mit der Dämonisierung. Wäre im Fall von „Sie sind unter uns“ auch ganz einfach gewesen. Einer Konkretion der Krankheit hätte es gar nicht bedurft. Die Konkretion haben sich Jan Braren ja auch für Jeremys Morde gespart.
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