Was war denn da schon wieder los? Einen Tag, nachdem Mariah Carey in New York bei den MTV VMAs den Vanguard Award für ihren Beitrag zur Musikvideokunst erhalten hatte, fragten Nachrichtenseiten am Dienstag, ob man sich wieder Sorgen um sie machen müsse. Als Anlass wurde zum einen ihr rund sechsminütiger Auftritt genannt, bei dem sie eine Reihe ihrer größten Hits zum Besten gab, während sie sich kaum von der Stelle rührte, und zum anderen eine After-Show-Party, wo sie mit Busta Rhymes den Hit „I Know What You Want“ sang – beziehungsweise es zumindest versuchte.

Leider konnte sie sich nicht an den Text erinnern und traf auch selten den Ton. Aber man muss das verstehen: Sie befand sich auf einer Musikindustrieparty, niemand übersteht so etwas nüchtern. Und was ihre statische Darbietung bei den VMAs angeht: Carey ist 56 Jahre alt und bewegt sich eben nicht mehr wie mit 20. Zumal sie sich auch schon mit 20 nicht wirklich bewegt hat – das hat sie eigentlich nie getan. Als wahre Diva – und wir verwenden den Begriff nicht leichtfertig – hat sie das auch gar nicht nötig: Die Welt dreht sich ja um sie.

Nach sieben Jahren Pause veröffentlicht sie nun ihr Album „Here For It All“, obwohl – wenn man es genau nimmt – es gar kein Comeback ist. Sie war ja nie weg. Jedes Jahr ist sie pünktlich zu Weihnachten mit „All I Want For Christmas“ präsent, und außerdem gab es vor fünf Jahren noch ihre Autobiografie „The Meaning of Mariah Carey“. Ein spektakulärer Erfolg: auf Platz eins der Bestsellerliste der „New York Times“ und mit allen Zutaten angereichert, die das amerikanische Herz begehrt. Eine Aufstiegsgeschichte aus großer Armut zu einer der reichsten Musikerinnen der Gegenwart, Rassismuserfahrungen – weiße Mutter, schwarzer Vater –, das krause Haar, das für den Welterfolg glatt gekämmt werden sollte, eine dramatische Ehe mit dem 21 Jahre älteren Plattenfirmenmogul Tommy Mottola, die Befreiung aus dem goldenen Käfig, die Neuerfindung, der Nervenzusammenbruch und das tatsächliche Comeback vor 20 Jahren.

Die verblüffte Leserschaft erfährt, dass all ihre Lieder über Schmetterlinge, Regenbögen und Armbänder mit Anhängern tatsächlich biografischen Ursprungs sind – was an etlichen Beispielen detailliert dargelegt wird. Nach der Lektüre hat man das Gefühl, dass Carey künstlerisch betrachtet weniger mit Whitney Houston oder Céline Dion verbunden ist als vielmehr mit Bob Dylan und Joni Mitchell.

Grob betrachtet lässt sich ihr bisheriges Werk in etwa drei Phasen einteilen. Die erste beginnt 1990 mit dem Debüt „Mariah Carey“, das sie im Genre des Adult Contemporary verortet, und erstreckt sich über „Emotions“ (1991) und „Music Box“ (1993). Mit dem Übergangsalbum „Daydream“ (1995) beginnt Phase zwei, die vom deutlichen Schwenk in Richtung Hip-Hop geprägt ist. Weil sie vom Adult Contemporary so nachhaltig gelangweilt ist, nimmt sie sogar nebenher mit der Band Chick das Grunge-Album „Someone’s Ugly Daughter“ auf, für das sie sämtliche Songs schreibt. Die Songs tragen Titel wie „Demented“, „Agony“ und „Love Is a Scam“, doch die Plattenfirma untersagt die Veröffentlichung, weswegen das Werk mit einer Ersatzsängerin neu eingespielt wird – schade.

Was den Hip-Hop angeht, ist die Plattenfirma ebenfalls nicht begeistert, aber man lässt sie gewähren. Die neue Phase währt drei Alben lang, nämlich von „Butterfly“ (1997) über „Rainbow“ (1999) bis „Glitter“ (2001), dem Soundtrack des gleichnamigen Films. Weil der Film ausgerechnet am 11. September 2001 in die Kinos kam, floppt er aus naheliegenden Gründen spektakulär, und Carey erlebt einen öffentlichkeitswirksamen Burn-out. „Charmbracelet“ soll 2002 wieder richten, indem es an Phase eins anschließt – was jedoch mit dem nächsten Werk wieder verworfen wird.

Sie lässt Leute immer warten

2005 erlebt Carey dann das große Comeback mit „The Emancipation of Mimi“, dem Beginn von Phase drei, die von Selbstfindungswerken mit minimalistischem R&B sowie betont komplexen Titeln geprägt ist. Es folgen „E=MC²“ (2008), „Memoirs of an Imperfect Angel“ (2009) und „Me. I Am Mariah … The Elusive Chanteuse“ (2014). Komplizierter konnte es anschließend nicht werden, weshalb mit „Caution“ (2018) das Übergangswerk zu Phase vier erscheint, die nun mit dem neuen Album beginnt. „Here For It All“ ist gewissermaßen die logische Folge aus 35 Jahren Karriere.

Wir haben die Adult-Contemporary-Balladen, den angegospelten Soul, den Hip-Hop-Einfluss, den zeitgenössischen R&B und die unverzichtbare Selbstbespiegelung im Eröffnungsstück. „Mir ist vieles egal, wenn es nicht um mich geht / Lass zuerst das Geld sprechen, Gespräche sind nicht umsonst / Ich bin die D I V A, ja, das ist MC / Ich bin ein scharfer, heißer Körper, ja, das bin ich“, singt sie in „Mi“. Aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, weil wir seit rund 20 Jahren wissen, dass Carey nicht nur „Mi“ ist, sondern eben „Mimi“ – und Mimi hat auch ein Talent zur Selbstironie, ein Umstand, der in der Berichterstattung über Carey gern unterschlagen wird.

Die aktuelle Single „Sugar Sweet“ handelt im Kern davon, dass sie immer sehr lange braucht, um sich für ihren Liebsten zurechtzumachen – Haare, Nägel, Make-up –, sodass der Liebste irgendwann schon wieder zur Tür heraus ist, weil er keine Zeit mehr hatte. Aber Mariah, großzügig, wie sie ist, bleibt dann ganz „zuckersüß“, weil sie weiß, dass der Kerl sowieso bei ihr bleibt. Tatsächlich ist Careys Zeitmanagement einigermaßen beklagenswert – der Autor musste einmal einen ganzen Tag warten, bis sie endlich zum Interviewtermin erschien.

Wenn „Sugar Sweet“ so autobiografisch ist wie ihre anderen Lieder, dann dürfte der Mann, der derzeit ständig auf sie warten muss, gerüchteweise Anderson .Paak sein – die beiden sind angeblich ein Paar. Vielleicht auch deswegen gibt es auf dem neuen Album das Duett „Play This Song“ mit .Paak zu hören, in dem es um eine Grundvoraussetzung des Wartens geht: nämlich dass der jeweils andere nicht da ist. Weil .Paak wie Carey vielbeschäftigte Musiker sind, bekommen sie sich wahrscheinlich nur selten zu Gesicht, weshalb sie sich hier gegenseitig den Rat geben, eben diesen Song zu hören, weil er daran erinnert, dass man sich irgendwann doch einmal getroffen haben muss.

Und so singt sich Carey auf dem deutlich organischer instrumentierten Album durch etliche Sehnsuchtszustände und endet mit dem Titelsong, einer der tollsten Powerballaden, die man je von ihr gehört hat. Mit Pianobegleitung, geschnörkeltem Gesang, Pfeiftönen und einer dramatischen Gipfelstürmerei schraubt sie sich in die Höhe. „Baby, I’m here for it all“, jubiliert sie. Wir schließen uns an.

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