Der Nazivorwurf ist ein quecksilbriges Ding. Unberechenbar kann er innerhalb von Momenten die Stoßrichtung wechseln. Gerade wurde noch eine Fernsehmoderatorin, die ein wenig von der politischen ÖRR-Monokultur abweicht, „ein bisschen“ unter Rechtsextremismusverdacht gestellt. Nun trifft es die Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion.

Für alle, die es nach zwei Tagen Erregungstrommelfeuer noch immer nicht mitbekommen haben: Katharina Dröge rutschte am Mittwochabend in der Talkshow „Maischberger“ ein Spruch heraus, den unter anderem sehr prominent auch die Nazis gebraucht haben, der aber tückischerweise so alt, so abgenutzt und semantisch so blass ist, dass er immer mal wieder Menschen in den Sinn kommt, wenn sie ausdrücken wollen, die Geschmäcker seien nun mal verschieden. Als sie gebeten wurde, die Selbstdarstellungsvideos von CSU-Chef Markus Söder zu kommentieren und mit denen ihrer Parteikollegin Annalena Baerbock zu vergleichen, sagte sie: „Das finde ich ein bisschen unästhetisch, aber er hat ja seine Fans. Deswegen: Jedem das Seine.“

Dieser Spruch wird heute verbunden mit dem Nationalsozialismus, weil er im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar extrem zynisch verwendet wurde. Die SS ließ ihn am schmiedeeisernen Tor des Häftlingslagers anbringen – und zwar so, dass man ihn von innen vom Appellplatz des Lagers lesen konnte. Damit sollte den Gefangenen suggeriert werden, sie bekämen genau das, was sie verdient hätten.

Dieser Lapsus fliegt Dröge seitdem um die Ohren. Vor allem beim riesigen Schmeißfliegenschwarm der Erreger in den sozialen Medien. Dort wurde mehrfach daran erinnert, dass der AfD-Mann Björn Höcke wegen der Verwendung eines ähnlichen, für Uneingeweihte nicht sofort identifizierbaren NS-Spruchs verurteilt wurde. Das Landgericht Halle hatte im Mai und Juli 2024 eine Geldstrafe von 13.000 Euro – 100 Tagessätze zu je 130 Euro – verhängt, weil Höcke bei Veranstaltungen die SA-Parole „Alles für Deutschland“ genutzt hatte. Nun argumentierten etliche, für Dröge sollten dieselben Maßstäbe gelten.

So weit wird es wohl nicht kommen. Und zwar nicht wegen irgendeiner Form von Gesinnungsgenossen-Kumpelei zwischen Justiz und Grünen. Sondern weil es bei aller Gemeinsamkeit auch wesentliche Unterschiede zwischen den Sprechakten Dröges und Höckes gibt.

Gemeinsam ist den Sprüchen „Jedem das Seine“ und „Alles für Deutschland“, dass sie eine lange Vorgeschichte hatten, bevor sich die Nazis ihrer bemächtigten. Im Falle von „Jedem das Seine“ reicht sie bis in die Antike zurück. Cicero übersetzte politische Prinzipien, die schon bei Platon und Aristoteles niedergelegt waren, ins Lateinische mit suum cuique. Gemeint war eine Verteilungsgerechtigkeit, nach der jeder Bürger das bekommen sollte, was ihm politisch und juristisch zustand. Diese lateinische Formel wurde in der Renaissance von dem europaweit wirkmächtigen Rechtsphilosophen Hugo Grotius wiederbelebt. Der Sinnspruch prangt an vielen älteren öffentlichen Gebäuden und ist auch das Motto der Feldjägertruppe der Bundeswehr.

Auch „Alles für Deutschland“ war sowohl vor als auch nach dem Nationalsozialismus im Gebrauch. Der Spruch tauchte im 19. Jahrhundert auf, war in der Weimarer Republik sogar bei Sozialdemokraten üblich. In der unmittelbaren Nachkriegszeit stand die Parole sogar in einem Geleitwort, das die SED-Größen Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl für das gerade gegründete Parteiorgan „Neues Deutschland“ verfasst hatten: „Alles für Deutschland, alles für das neue Deutschland“ sei die Leitfahne des neuen Zentralorgans.

Strafbar sind beide Sprüche deshalb nur, wenn sie klar mit Bezug zu nationalsozialistischer Ideologie verwendet werden. Für „Jedem das Seine“ stellte das 1998 ein Gericht fest. Ein esoterischer Schriftsteller hatte den Spruch verwendet, um den Holocaust mit dem schlechten Karma der Juden zu erklären. Er wurde wegen Volksverhetzung verurteilt. Bei Dröge wird aber auch der verrückteste Grünen-Hasser nicht unterstellen, dass sie NS-Gedankengut verbreiten wollte.

Geleugnet hat solche Absichten auch Höcke. Doch die Richter in Halle berücksichtigten die Situation, in der er „Alles für Deutschland“ gesagt hatte. Es ist eben ein Unterschied, ob man – wie der AfD-Agitator es getan hat – die Formulierung nutzt, um ein verschworenes Publikum, das die NS-Bedeutung des vordergründig harmlos-patriotischen Spruchs genau kennt, anzufeuern oder ob man in einer Talkshow gedankenlos daherplappert.

Die Bloßstellung ist Strafe genug

Deswegen wird Katharina Dröge davonkommen wie die Influencerin Cathy Hummels. Die wollte im Mai 2024 auf ihrem Instagram-Account die Stimmung kurz vor der Fußball-Europameisterschaft anheizen und schrieb: „Das wird ein grandioses Erlebnis. Alles für Deutschland.“ Höcke kündigte daraufhin auf X an, sie anzuzeigen, „um die Absurdität des Urteils gegen mich zur Kenntlichkeit zu stellen.“ Entsprechende Ermittlungen stellte die Staatsanwaltschaft München aber rasch wieder ein.

Hummels hatte eben genau wie Dröge kein „Dogwhistling“ betrieben. So nennt man – analog zur Hundepfeife, die nur das Tier hören kann – den rhetorischen Trick, Anspielungen zu nutzen, die ein ideologisch gleichgesinntes Publikum schon richtig versteht, bei denen man sich aber in der Not darauf zurückziehen kann, das sei doch alles ganz harmlos allgemein gemeint gewesen. Die beiden Frauen hatten nur offenbart, dass sie geschichtlich ahnungslos sind und nicht immer so genau darüber nachdenken, was sie reden. Das ist nicht strafbar. Und wenn es für jedermann offenbar wird, ist es schon Strafe genug.

WELT-Redakteur Matthias Heine ist Autor des Buches „Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht“ (erschienen bei Duden).

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