Man hat sich die Kunstfirma Kirchner als solides Einmann-Unternehmen vorzustellen. Produktion, Kalkulation, Vertrieb, Marketing, Kundenpflege – alles in einer Hand. Auch die Kritik. Unter dem Pseudonym Louis de Marsalle schrieb der Maler hingebungsvoll über sein eigenes Werk. Max Huggler, der Berner Kunsthallendirektor, war tief beeindruckt und lud den auftrittswilligen Künstler zur großen Ausstellung.
Das war 1933. Jetzt nach mehr als neunzig Jahren hat das Kunstmuseum Bern die Selbstshow des Ernst Ludwig Kirchner wiederholt. Eine Rekonstruktion fast zu hundert Prozent. Sogar das Lieblingsbild deutscher Bundesregierungen, Kirchners monumentales Viermeter-Almpanorama „Sonntag der Bergbauern“, das seit Helmut Schmidts Zeiten zum Dekor des Regierungssitzes gehört, durfte für einen Sommerurlaub in die Schweiz ausreisen.
Dort trifft es auf den nicht weniger gedehnten „Alpsonntag. Szene am Brunnen“. Acht Meter Kirchner. Acht Meter betuliche Malerei, vor der der ergriffene Selbstkritiker dem ergriffenen Maler nur bestätigen konnte, eine neue – und das heißt: gültige – Form für Landschaft und Leute gefunden zu haben.
Die Ausstellung „Kirchner x Kirchner“ ist eine kleine Sensation. Denn selten einmal ist in einer Kirchner-Ausstellung so deutlich geworden, wie sich das Werk von seinen nervösen Anfängen in dekorative Gefälligkeit verwandelt hat, wie es die performative Aktmalerei der Dresdener Zeit und die bizarren Straßen-Szenen der Berliner Zehnerjahre im Davoser Exil wie abgetane Kapitel hinter sich gelassen hat und mit Louis de Marsalles Hilfe um den französischen Picasso-Thron herumgeschlichen ist.
Kirchner, der die Ausstellung damals selbst kuratieren durfte, ließ keine Zweifel daran, dass ihm das eigene Frühwerk fremd, fast peinlich geworden war. Nur ausschnittweise nahm er es in seine Berner Auswahl auf. Und im Tagebuch schnödete er gegen die alten Gefährten und Freunde, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff.
Dass mit dem aufziehenden Faschismus deutsche Museen Ausstellungsprojekte cancelten und die Sammler zurückhaltend wurden, bestärkte ihn nur in der Idee, die Schweizer Wahlheimat, in der er seit 1917 lebte, zur Kulisse eines Volkstheaters zu nutzen, in dem die kantigen Mitspieler friedlich gemütlich vor ihrer zerrissenen Bergwelt posieren. Und Figuren, Landschaft und Gegenstände nurmehr dazu da sind, um das chemisch glimmende Farbspektakel zu begründen.
Auf fast tragische Weise erlebt man nun, wie das Werk seinen Weltbezug verliert, wie ihm seine körpersprachliche Nervosität mehr und mehr fremd, geradezu peinlich geworden ist, wie er fast wehrlos dem Idyll erlegen ist und den erlittenen Weltverlust in der Titanenarbeit an neuen Weltbildern verschmerzt hat, wie er koloristische Metaphern geschaffen hat für eine Eintracht von Natur und Mensch.
Sagen wir es mit seinen eigenen, also mit Louis de Marsalles Worten: „Kirchner steht heute so stark in ganz neuen Problemen, dass man ihn mit den alten Maßstäben nicht messen kann, wenn man seiner Arbeit gerecht werden will. Die, die ihn nach seinen deutschen Bildern einordnen wollten, werden enttäuscht sein, sie werden an ihm noch Überraschungen erleben. Neben der Arbeit am sichtbaren Leben hat sich ihm das weite Gebiet des Schaffens aus der reinen Phantasie geöffnet …“.
Es hat ja vielleicht schon seine innige Bedeutung, dass der „Sonntag der Bergbauern“ seinen Überlebensort im Kabinettsaal des Berliner Bundeskanzleramts gefunden hat. Fruchtbar streiten lässt sich vor den spielenden Kindern und dem weißbärtigen Almöhi, der den Leuten aus dem Dorf vom Berggeist erzählt, jedenfalls schwerlich. Und dass regierungsmäßig nichts so richtig gelingen will, mag auch mit den ausbleibenden Überraschungen zu tun haben, die der Maler „der reinen Phantasie“, bevor er sich 1938 erschossen hat, feierlich versprach.
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